Passionierter Apologet der Klangrede

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Widerspruchsgeist und revolutionärer Erneuerer: Kaum jemand hat die Musiklandschaft so entscheidend geprägt wie Nikolaus Harnoncourt. Drei Monate nach seinem Rückzug als Dirigent ist der streitbare Musiker im Kreis seiner Familie gestorben.

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Widerspruchsgeist und revolutionärer Erneuerer: Kaum jemand hat die Musiklandschaft so entscheidend geprägt wie Nikolaus Harnoncourt. Drei Monate nach seinem Rückzug als Dirigent ist der streitbare Musiker im Kreis seiner Familie gestorben.

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Schon sein Ururgroßvater, der legendäre steirische Erzherzog Johann, ist mit seinen für die damalige Zeit revolutionären Sichtweisen als Rebell in die Geschichte eingegangen. Sein Ururenkel, der 1929 in Berlin geborene, in der Steiermark aufgewachsene Nikolaus Harnoncourt, hat davon offensichtlich einiges geerbt. Sonst hätte er nicht mit einer solchen Beharrlichkeit ein Leben lang nach Antworten gesucht, immer wieder Quellen genau studiert, um daraus die Sicherheit und Kraft für die von ihm beschrittenen neuen Wege zu finden. Sie machte ihn erst einmal zum gemiedenen Außenseiter, schließlich zum umjubelten Weltstar, auch wenn man nicht allen seinen Einsichten folgte.

Selbst die Salzburger Festspiele nannten ihn am Ende seines Lebensweges einen "Fackelträger". Dabei hintertrieb man gerade hier - anfangs freilich ebenso in Wien -so gut wie alle von Harnoncourts Ambitionen. In Salzburg war es der allmächtige Herbert von Karajan, der bis zu seinem Lebensende Harnoncourt verhinderte. Zu unterschiedlich waren ihre ästhetischen Überzeugungen: Der eine setzte auf ein blitz-blank poliertes, brillantes Klangbild, der andere auf harsche Zuspitzungen und kantige Akzente. Gewiss spielte auch der Konkurrenzneid eine Rolle. Karajan hatte wohl noch gut in Erinnerung, was einst Furtwängler alles unternommen hatte, um ihm, dem aufstrebenden Newcomer, das Leben schwer zu machen.

Zuerst verspottet, dann gefeiert

Dabei war es eben dieser Karajan, der den Schüler von Paul Grümmer und des prominenten philharmonischen Solocellisten Emanuel Brabec 1952 höchstpersönlich zu den Wiener Symphonikern, deren musikalischer Leiter er damals war und die nie wieder zu solchen Höhenflügen ansetzten wie unter ihm, verpflichtet hatte. Aber eben als Orchestermitglied und nicht in einer führenden Position. Ob Harnoncourt sich schon damals sicher war, dass sein vorgezeichneter Weg ein anderer war? Jedenfalls hatte er sich bereits 1949 mit Gleichgesinnten, darunter seiner späteren Gattin Alice, die bis zuletzt die wichtigste Person seines Lebens war und die wesentlichen Fäden für seine weltumspannende Karriere zog, zusammengetan für ein Gambenquartett und begonnen, sich für alte Instrumente zu interessieren.

Der Schlussakkord dieser Bemühungen ist bekannt: 1953, in dem Jahr, in dem er auch Alice heiratete, die Gründung des auf Instrumenten der Zeit spielenden "Concentus musicus". Erfunden hatte diesen Namen ein damaliger Regieassistent der Staatsoper: Federik Mirdita. Ironie des Schicksals, dass dieser bedeutende Regisseur und frühe Wegbegleiter Harnoncourts ebenfalls vor wenigen Tagen als Opfer eines Unfalls verstorben ist.

Zuerst als Exote verspottet, ging Harnoncourt mit diesem seinem Ensemble unbeirrbar seinen Weg. Er warb mit wegweisenden Einspielungen - darunter (zusammen mit Gustav Leonhardt) sämtliche Bach-Kantaten, dessen h-Moll-Messe und Passionen - für die historisch informierte Musizierpraxis, die stets auf genauen Quellenstudien basierte. Was jahrzehntelang, um es mit Harnoncourts Worten zu sagen, "fad" klang, war plötzlich spannend. Seine sehr andere Phrasierung und Artikulation erforderten allerdings ein radikales Umdenken, bei Musikern wie beim Publikum. Barock, später auch Klassik, wurde bald vielen bewusst, könne nur so klingen. Die bis dahin uniforme Musikwelt war in Aufruhr geraten. Erst recht, als es für Harnoncourts Einspielungen internationale Plattenpreise nur so regnete.

Das blieb nicht ohne Folgen. 1962 lud man den "Concentus" erstmals in das Wiener Konzerthaus. 1972 dirigierte Harnoncourt Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse" an der Scala in Mailand. Im Jahr danach berief man ihn als Professor an das Salzburger Mozarteum. "Theorie und Praxis" lautete der Titel seines Seminars, das er hier bis 1993 leitete. Mit Jean-Pierre Ponnelle führte er in Zürich maßgebliche Monteverdi- und Mozart-Zyklen auf. Bald schielten auch große Orchester nach diesem unerbittlich seine Vorstellungen realisierenden Pionier einer neuen Aufführungspraxis, darunter das Amsterdamer Concertgebouworkest, die Berliner und die Wiener Philharmoniker, die ihn gleich zweimal, 2001 und 2003, für das Neujahrskonzert einluden. 59 Mal dirigierte Harnoncourt an der Wiener Staatsoper, ohne dass sich hier jene intensive Beziehung entwickeln sollte, wie er sie später in Salzburg erfuhr und im Theater an der Wien, dem er bis zuletzt die Treue hielt.

"Wir alle brauchen die Musik"

In zahlreichen Büchern und Interviews reflektierte Harnoncourt seinen Weg. Dabei - wie auch in den Proben - zeigte sich dieser leidenschaftliche Apologet der Klangrede als glänzender Formulierer und bilderreicher Erklärer, der stets mit einer umfassenden historischen Bildung aufwartete konnte.

Polyglott war Harnoncourt auch in seinen musikalischen Interessen. Wer ihn nur als Revolutionär der Alten Musik, als Neudeuter der Wiener Klassik sieht, der vergisst, dass er auch ein perspektivenreicher Schubert-, Schumann-, Brahms- und Bruckner-Interpret war und maßgebliche Deutungen von Franz Schmidts "Buch mit sieben Siegeln", Alban Bergs Violinkonzert und so manchem Strawinsky und Bartók vorlegte. Einzig die Vollendung seines Beethoven-Symphonien-Zyklus im Wiener Musikverein, zu dessen umjubelten Stammgästen er mit seinem "Concentus" seit Jahrzehnten zählte, war ihm nicht mehr vergönnt.

"Wir alle brauchen die Musik, ohne sie können wir nicht leben", schloss Nikolaus Harnoncourt das erste Kapitel seines in den 1980er-Jahren erschienenen Buches "Musik als Klangrede". Als er spürte, dass es ihm nicht mehr vergönnt sein sollte, das persönlich zu leben, riss sein Lebensfaden. Am 5. Dezember 2015, dem Tag vor seinem 86. Geburtstag, teilte er seinen Rückzug als Dirigent mit, exakt drei Monate später, am 5. März 2016, ist er im Kreis seiner Familie gestorben.

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