Menschen - © Foto: iStock/imagedepotpro

Siehe, das ist der Mensch

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Der Mensch ist dem Menschen eine Bestie, zeigte Francisco Goya. Und Farideh Lashai zeigte, dass es immer noch nötig ist hinzusehen.

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Der Mensch ist dem Menschen eine Bestie, zeigte Francisco Goya. Und Farideh Lashai zeigte, dass es immer noch nötig ist hinzusehen.

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Spanien vor 200 Jahren: ein Desaster, das kaum in wenigen Sätzen zu skizzieren ist. Koalitionskrieg gegen Napoleon, dann verlängerter Arm der französischen Politik, dann Kriegserklärung an England. Napoleon und die Abschaffung der Inquisition hier, Adel und Kirche und das Festhalten an feudalen Strukturen dort; liberale Verfassung durch die Engländer, Wiedereinführung der Inquisition und Vorgehen gegen die Liberalen durch Ferdinand VII. und so weiter und so fort. Mit dem Aufstand vom 2. Mai 1808 in Madrid beginnt ein jahrelanger Bürgerkrieg, dessen Ungeheuerlichkeiten und Grausamkeiten Francisco Goya in seinen "Desastres de la guerra", die erst 1863 veröffentlicht wurden, auch für die Nachwelt festgehalten hat.

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In diesen berühmten 82 Radierungen blickt der Künstler, der zur selben Zeit auch Hofmaler war, schonungslos auf die Handlungen von Soldaten und Bevölkerung. Mehr als ein Jahrzehnt, von 1810 an, hat er daran gearbeitet. Jede Szene kann für sich gelesen werden, doch die einzelnen Radierungen wirken wie Stills, die hintereinander gesehen einen schrecklichen Film ergeben. "Der knappe Augenblick schlägt in die Allgegenwart der Gewalt um, aus der es kein Entrinnen gibt", schreibt Werner Hofmann in seiner Goya-Monografie.

Sadistische Gewalt

Gewalt ist in Goyas "Desastres" nicht die Gewalt von Soldaten gegen Soldaten an der Front eines Krieges. Hier ist der Krieg mitten in der Zivilbevölkerung angekommen, die Gewalt betrifft Männer, Frauen und Kinder. Und sie ist auf eine ungeheure Art zynisch, sadistisch, bodenlos. Denn die Gewalttäter begutachten hier zufrieden ihr grausames Werk. Und dieses Werk ist: hauen und stechen, aufknüpfen und vergewaltigen, Körper zerstückeln und Leichen fleddern, Massengräber und Mütter und Kinder auf der Flucht. Neben Leichenbergen, Resultate des Hungerjahres 1811/12, in dem mehr als 20.000 Menschen verhungerten, stehen arrogante Beobachter. Das alles wird mit einer Detailgenauigkeit gezeigt, die auch heute noch vor der Bestie Mensch erschrecken lässt.

Hier werden Menschen entwürdigt und gebrochen. Hier erweisen sich Menschen als Bestien.

Der Regel des Historienbildes folgt Goya hier nicht mehr, stellt Werner Hofmann fest, die "den Opfern wenigstens einen Rest von Würde, das Recht auf Klage und Anklage zugesteht. Davon ist bei Goya nichts zu spüren." Hier werden Menschen entwürdigt und gebrochen. Hier erweisen sich Menschen als Bestien. Keine Rettung, kein schützender Ort weit und breit.

200 Jahre und viele grauenhafte Fotografien und Filme von Leichenbergen und Folteropfern später, haben Goyas "Desastres" von ihrer Wirkung immer noch nichts eingebüßt. Was damals Wirklichkeit war, zur Zeit der sogenannten Aufklärung, war grauenhafte Wirklichkeit im 20. Jahrhundert und ist auch in jüngster Vergangenheit und heute noch Wirklichkeit: Srebrenica, Abu Ghuraib und Chan Scheichun, um nur drei Beispiele zu nennen. Immer noch hält uns Goya auf eine unübertreffbare Weise vor Augen, was Menschen einander antun. Und immer noch sind die Bilder schwer erträglich, wenn man sie sich genau ansieht.

Denn mit seiner so detailreichen Darstellung möglicher Gräueltaten hat Goya einen Punkt erreicht, der kaum zu überbieten ist. Den Zynismus spitzen dann auch noch die Titel zu, etwa: "Man kann es nicht ansehen" und "Und daran ist nichts zu ändern". Im Bild "Nächstenliebe ("Caridad", Blatt 27) werden die Toten (wenn sie denn bereits tot sind) wie Abfall in einen undefinierbaren Abgrund geworfen. Dieser Abgrund ist irgendwie überall. Denn auch der Raum, den Goya gestaltet, erzählt etwas. Hier gibt es keinen dreidimensionalen Raum mehr, der Koordinaten angeben und den Menschen - als vertraute Welt - irgendwie Schutz anbieten könnte. Goyas Räume sind auffallend leer und undefiniert, die Unbehaustheit nimmt erschreckende Formen an.

Räume ohne Menschen

Es ist dieser Raum, den die 1944 geborene iranische Künstlerin Farideh Lashai 2013 in ihrer Videoinstallation "When I Count, There Are Only You ... But When I Look, There Is Only a Shadow" aufgegriffen und auf besondere Weise sichtbar gemacht hat. (Der poetische Titel ihres Werks ist inspiriert durch T. S. Eliots "The Waste Land".) Wenn man die Menschen, die gerade dabei sind, einander auf grausamste Weise zu verletzen, aus den Radierungen eliminiert, dann bleiben diese leeren Räume, undefinierbare Landschaften mit viel Dunkelheit und Abgrund, Räume, die jede Behausung, jede Schutzmöglichkeit vermissen lassen.

Sind die Menschen verschwunden, sieht man Landschaften, in denen das Grauenhafte geschehen ist.

Lashai, die in ihren Arbeiten oft Videos auf Gemälde projizierte, hat die Figuren von 80 "Desastres"-Radierungen verschwinden lassen, den leeren Raum ergänzt und die neu entstandenen Bilder in acht Reihen zu je zehn in einem großen Rechteck angeordnet. Das alleine ergibt bereits ein faszinierendes Kunstwerk. Sind die Menschen verschwunden, sieht man Landschaften, in denen das Grauenhafte geschehen ist. Und in denen das Grauenhafte geschehen wird. Weil Goyas Bilder bekannt sind, ergänzt das Auge irgendwie diese Figuren, man weiß, was hier geschehen ist. Umso unheimlicher wirken die Landschaften. Wenn Lashais Installation dann so eingebettet ist wie zur Zeit im Museum voor Schone Kunsten in Gent, wo man sich als Besucher zuvor an Goyas "Caprichos" und "Desastres" vorbei bewegt hat, dann liest man die Figuren und Handlungen erst recht in die leeren Landschaften hinein.

Aus den gescannten Goya-Figuren bereitete Lashai ein digitales Video und sie animierte die Figuren. Als "Spotlight" streicht der Film langsam zu Chopins Nocturne Nr. 21 über die Bilder. Dort, wo das Licht gerade auftaucht, werden für Sekundenbruchteile die Goya'schen Figuren sichtbar und bewegen sich, Täter ebenso wie Opfer. Da sieht man vor Schmerzen zuckende und sich aufbäumende Körper, und da sieht man Täter, die gerade zuschlagen oder sonstwie Hand an andere anlegen. Kaum ist das Licht weg, bleibt die leere Landschaft - und anderswo werden die Gräueltaten sichtbar. Das wirkt unmittelbar und emotional, lässt aber auch noch lange darüber nachdenken, was da gerade so wirkte, wie es wirkte. Und was es bedeutet, wenn etwas nicht mehr im Blick ist.

Die derzeitige Hängung im Genter Museum voor Schone Kunsten provoziert weitere Fragen. Denn nach (oder vor) dieser Installation geht das Licht als Ball auf eine Szene aus Charlie Chaplins Film "Der große Diktator" über - dort spielt Hitler mit dem Erdball, in Lashais Installation ist es die Lichtkugel, die eben noch die Szenen auf den menschenleeren "Desastres" gezeigt hat und bald wieder zeigen wird. Das Licht der Aufklärung? Als Spielball der Macht? Als Freisetzung der Grausamkeit? Als Aufdeckung der Grausamkeit?

Die Einzelnen im Blick

2010 hatte Lashai - bereits an Krebs erkrankt - mit diesem Werk begonnen. Während des Arabischen Frühlings arbeitete sie daran, und das Ergebnis kann nun als ihr künstlerisches Testament gelten, denn Lashai ist 2013 verstorben. Wie Goya 200 Jahre zuvor war sie nicht nur Künstlerin, sondern auch Augenzeugin: Sie erlebte die Proteste der 1960er- und 1970er-Jahre, den Prager Frühling, die Islamische Revolution 1978-79, den Iran-Irakkrieg 1980-1988. Sie hoffte auf eine demokratische Reform und wurde doch ständig desillusioniert, musste ein repressives Regime nach dem anderen erfahren und war zwischen 1974-1976 in Teheran sogar inhaftiert.

"When I Count, There Are Only You ... But When I Look, There Is Only a Shadow" ist eine faszinierende Rettungsmaßnahme für den schon so abgestumpfen Sehsinn, der die Grausamkeit nicht einmal mehr erkennt, wenn sie vor ihm steht. Eine Antwort auf die Gleichgültigkeit, produziert von der Unzahl an brutalen Bildern, die uns täglich überschwemmen. Vielleicht auch eine Metapher dafür, was nicht nur Politikern und Journalisten anzuraten ist: von einzelnen Opfern zu sprechen und zu schreiben, denn das große ganze Elend ist auf einmal nicht zu bewältigen. "Ecce Homo" heißt das in der Kunstgeschichte und bezieht sich nicht ausschließlich auf den mit Dornen Gekrönten, der bald gekreuzigt werden wird. Siehe, der Gefolterte. Hier aber auch: Siehe, der Folterer. Sie werden sichtbar, im künstlichen Scheinwerferlicht eines großartigen Kunstwerks.

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