Menschsein ohne Verstand - © Foto: Alex Boyd / Unsplash

Menschsein ohne Verstand

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Der Mensch ist mehr als ein Verstandeswesen. Die bisherige Definition ist unvollständig.

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Der Mensch ist mehr als ein Verstandeswesen. Die bisherige Definition ist unvollständig.

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Demenz ist eine grausame Erkrankung. Die betroffenen Menschen werden zunächst vergesslich, erkennen allmählich ihre Liebsten nicht mehr und am Schluss sind sie pflegebedürftig wie kleine Kinder. Die Ursache für diese geistige Rückentwicklung ist der irreversible Verlust von Hirnzellen. Laut Hochrechnungen wird es in 15 Jahren 50 Millionen Menschen ohne Verstand geben!

Doch was ist ein Mensch ohne Verstand? Der Verstand bildet doch die Seinsgrundlage des Menschen. So etwa bei Descartes. Sein "Cogito ergo sum" - "Ich denke also bin ich" - wird zum fundamentalen nahezu dogmatisch anmutenden Leitsatz des aufgeklärten Menschen. Charles von Linné, der große Biologe, erhebt 1766 den Verstand zum Wesensmerkmal des Menschen. Er bezeichnet ihn als "homo sapiens", das bedeutet: der denkende Erdbewohner.

Non cogito, ergo non sum?

Aber wie lässt sich dieses "Cogito ergo sum" mit dem nicht wegzuleugnenden Phänomen der Demenz in Einklang bringen? "Non cogito ergo non sum!" - "Ich denke nicht, also bin ich nicht!". Bin ich noch Mensch, wenn ich schwer dement bin? Oder ist der Mensch mehr als nur ein denkendes Wesen?

Den reduktionistischen Geist erkennt man an seinem arrogant herablassenden, abwertenden "Nicht mehr als". Der Kosmos ist nicht mehr als die Folge des Urknalls. Das Leben ist nicht mehr als der Staub der Sterne. Die Liebe ist nicht mehr als eine besondere chemische Aktivität im limbischen System. Der Mensch ist nicht mehr als ein denkendes Tier, zoologisch katalogisiert und auf dessen Verstand reduziert.

Doch wir können diesem abwertenden "Nicht mehr als" ein "Mehr als nur" entgegensetzen. Das Universum ist mehr als nur ein Knall, das Leben, die Liebe und Gott mehr als nur chemische Prozesse, so wie die gigantischen Pyramiden von Gizeh und die Kathedrale von Köln mehr sind, als nur eine Masse von Steinen oder das Gedicht Rilkes mehr als Tinte und Papier.

Sicherlich, die Demenz erschüttert das Fundament der menschlichen Existenz. Und dennoch, der geistig umnachtete, demente Mensch gewährt uns einen noch tieferen Blick in das Wesen des Menschen. Das Phänomen Demenz hält uns den Spiegel vor, dass der Mensch mehr ist als nur ein Denkender, ein Wissender, nur von der Ratio Bestimmter. Er ist vor allem ein Ahnender, im Geheimnis Lebender, nach Karl Rahner, ein homo sapiens et mysticus. Nach Teilhard de Chardin einer, der aus der Zoosphäre kommt und über die Noosphäre hinaus in die metaphysische Sphäre blickt, ein homo metaphysicus. Erst als solcher ist er kraftvoll genug seine großartige Kultur zu schaffen:

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