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Experimentierküche der Politik

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DIE FÜNFTE REPUBLIK. Was steht hinter de Gaulle? Von Armin Möhler. Piper Paperback, Originalausgabe. R.-Piper-£-Co. Verlag, München, 196S. 331 Seiten. Preis 10.8 DM.

Seit der Großen Revolution ist Frankreich die eigentliche Experimentierküche der modernen Politik: Diesen Hinweis schickt der Autor des vorliegenden Buches seiner

Analyse der französischen Innenpolitik der Gegenwart voraus und erinnert damit an die Möglichkeit eines weiteren Aspektes, den er aber in der Folge außer acht läßt; mit Recht, denn eine, schon aus Raumgründen in den Ansätzen steckenbleibende, vergleichende Darstellung europäischer politischer Soziologie oder Ideengeschichte käme den

Wurzeln der treibenden Kräfte jeder Politik bei weitem nicht so nahe, wie diese nüchterne, strenge Analyse eines einzigen Phänomens unserer Tage: eben der Fünften Republik. Der Autor bemerkt dazu, er fasse in diesem Buch die Erfahrungen zusammen, die er während seiner achtjährigen Tätigkeit als Pariser Korrespondent mehrerer europäischer Blätter — die „Furche“ gehörte in den Jahren zwischen 1957 und 1961 auch dazu, wie viele dankbare Leser Möhlers damaliger Berichte noch wissen werden — sammeln konnte. Aber welche Zusammenfassung! Es ist eine anatomische Studie, bei der Schicht um Schicht freigelegt, Nerv um Nerv erkannt und beim Namen genannt wird, aber die Hand, welche das Skalpell führt, ist leicht, der Ton ist niemals dozierend, die Schilderung nie langatmig.

Möhler bekommt sein Thema sofort in den Griff, indem er sein Verhältnis, seine Distanz zum gewählten Gegenstand, dem er übrigens „Respekt und Freundschaft“ bezeugt,

klarstellt: Er macht sich von den Fehlern der traditionellen französischen Selbstinterpretation frei, denen auch die ausländischen Beobachter gewöhnlich erliegen. Diese Selbstinterpretation besagt etwa, daß der Franzose in der Politik rationaler handle und freier sei als Angehörige anderer Nationen. Oder daß er nun einmal „links“ stehe, auch wenn er im Grunde ein Faschist sei usw. Auch legt ein Franzose meistens Wert darauf, daß man der Verfassung und den einschlägigen Institutionen in jeder Darstellung den zentralen Platz einräumt; in Wirklichkeit wissen die französischen Politiker selber genau, daß die Verfassung stets nur ein Gradmesser der Kräfteverhältnisse ist. Möhler geht noch weiter: Bonapartismus, Boulangismus, Faschismus gelten nach dieser französischen Selbstinterpretation als „Betriebsunfälle“ der verfassungsmäßigen Demokratie; in Wirklichkeit sind sie einzelne Stationen einer Tradition, die in Frankreich schon immer als Tabu galt. Aber, sagt Möhler, das gehört eben auch zum Phänomen Experimentierküche: Der moderne Faschismus hat in Frankreich seine legitimen Vorläufer und bedeutendsten Philosophen. Das letzte und größte Tabu besteht aber nach Möhler darin, daß man immer nur das Volk und den einzelnen — den politischen Führer — als die Faktoren der Politik gelten lassen wollte. In Wirklichkeit gilt seit der Großen Revolution die Gesinnungsgemeinschaft (Klub,

Loge) als wichtigster Movens der Geschichte. Aus den revolutionären Stoßtrupps wurden jedoch sehr bald die Komitees von Notabein, deren erstes Ziel stets die Bewahrung des Status quo war und ist. Eine bürgerliche Führungsschicht ■— Möhler nennt sie, nach dem englischen establishment: „etablissement“ — beherrscht Frankreich unter wechselvollem Himmel seit mehr als hundertfünfzig Jahren: Es ist überflüssig, zu sagen, daß Möhler auch die treibende Kraft, die „Mechanik“ der Fünften Republik in diesem Etablissement sieht.

Die außergewöhnliche Persönlichkeit de Gaulles zweifelt der Autor nicht an; trotzdem kann er sie nicht anders sehen als eine zentrale Figur inmitten eines Spannungsfeldes, in dem, in einer unwiederholbaren geschichtlichen Situation, die Ultras und das Etablissement gleicherweise in ihr die Lösung einer Verknotung sahen. Die einen mußten enttäuscht werden: und diese waren die Ultras. Das heißt aber noch nicht, daß das Etablissement de Gaulle unterstützt. Es wartet vielmehr ab, und de

Gaulle meistert seine Aufgaben und die Krisen seiner „Telekratie“ (Fernsehherrschaft) ganz allein, ohne Methode, mit Hilfe eines Rituals, vielleicht mit Unterstützung einiger Technokraten, die in ihm ihre Chance sehen.

Möhler überrascht den Leser, der seine Thesen da und dort für abstrakt oder etwas zugespitzt halten mag, mit einem wissenschaftlichen Apparat, der mehr als die Hälfte (\\ des Bandes ausmacht und jedem Wunsch nach systematischer Vertiefung in die Materie entgegenkommt. Eigene und fremde Texte zur Er-

härtung seiner Thesen haben darin ebenso Platz wie Zeittafeln, unzählige biographische und bibliographische Zusammenstellungen, alles mit Kritik, mit philologischen Exkursen: Das ganze endet mit einer nuancierten Aufzählung des Vokabulars, der phonetischen und anderen Spielereien der Gaullisten, der Antigaul-listen ... Die tiefste Schicht ist erreicht.

Der Nichtfranzose legt das Buch Möhlers aus der Hand und wendet sich mit geschärftem Blick den heimischen Gegenden zu.

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