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Revision des ABGB?

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Als Maria Theresia, die große Kaiserin, ihren Räten den Auftrag erteilt hatte, die rechtlichen Verhältnisse und Beziehungen der Staatsbürger aufzuschreiben, legte man ihr nach langjährigen Beratungen ein Werk vor, das sich wohl rühmen mochte, so gut wie alle wesentlichen Fälle niedergelegt zu haben. Aber als es die Kaiserin aufschlug, fand sie, daß ihre Kommission überbedachtsam gewesen war, in dem Bestreben, das ganze Rechtsleben der Bürger festzuhalten; die Kronjuristen hatten nicht weniger als über fünftausend Paragraphen dazu benötigt. Maria Theresia war es klar, daß keinem Richter zuzumuten war, mit solchen Kompendien zu arbeiten. Sie zögerte nicht, die Arbeit zu kassieren und das Werk neu beginnen zu lassen. Sie, die Frau, gibt nun selbst die weiteren Anweisungen und bestimmt Rahmen und Ziel, nämlich den Stoff nicht nur zu sammeln und zu gliedern, sondern in ein System einzubauen und somit als äußere Erscheinung des Rechtssystems darzustellen. Nidit irgendwelche philosophische Spekulation, sondern Zwang der Umstände, gepaart mit mütterlich gesundem Hausverstand der Kaiserin, standen somit an der neuen Entwicklung der Rechtsdarstellung Pate.

Jedoch wäre auch dies noch'nicht so bedeutsam oder originell gewesen, um damit die tiefe Wirkung des daraus entwickelten Produkts zu erklären. Die Bedeutsamkeit der persönlichen Weisung und Einwirkung der Habsburgerfürstin liegt vielmehr darin, den Kodifikatoren den Sinn dafür eröffnet zu haben, jenes als das hinter den Paragraphen wirkende Rechtssystem aufzuzeigen, das füglich als das österreichische anzusprechen war. Das ist Maria Theresias Großtat; das ist die Großtat der Beauftragten: erspürt zu haben, daß ein und welches System jenen fünftausend rechtlichen Begebenheiten zugrunde lag! Nun konnte sozusagen von innen heraus Tür auf Tür, Fenster auf Fenster geöffnet werden, und das Licht leuchtete aus jeder dieser Worten so urkräftig, daß die fünftausend Einzelfälle der ersten Kommission auf kaum eineinhalbtausend zusammenschmolzen, die besonderer Darstellung bedurften. Daß die meisterhaft geschliffene Sprache des Endwerkes auch dialektisch jeweils die vollkommenste Ausdrucksform zwischen Gesagtem und Gewolltem brachte, vollendete und krönte es bedeutsam.

Um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert konnte der Grazer Jurist Zeiller das ABGB in seiner endgültigen Form dem Monarchen vorlegen. Aber Kaiser Franz hat keine Eile, Lorbeeren zu ernten. Er läßt den Text vielmehr in äußerster Vorsicht und Gewissenhaftigkeit gegenüber seinen Völkern zuerst lediglich in Galizien publizieren, und erst als die praktischen Erfahrungen bei den dortigen Gerichten jeden Zweifel an der Brauchbarkeit des Gesetzeswerkes beseitigen, ordnet er mit Patent vom Jahre 1811, inmitten all der äußeren Zeitnöte der Näpoleonischen Kriege, die Inkraftsetzung für alhykterreichischen Erblande an. ^ i Wie nicht anders zu erwarten, hat es sich, selbst alles Gewaltsame vermeidend, Sprachrohr sozusagen echt altösterreichischen Wesens, abhold jeder Künstelei und Weltfremdheit, allsogleich durchgesetzt, dank seiner allgemeingültigen Normen aber auch über die Grenzen seines Publi-kationsgebietes hinaus machtvolle Wirkung erzielt.

Das ABGB ist nun fünf Menschenalter in Geltung, nicht nur in unserer engeren Heimat, sondern rneht noch immer überall da. wo es seinerzeit publiziert worden war, in Galizien, in Böhmen so gut wie in Südtirol, im Banat, als Künäer österreichischer Friedenswerte. Daß es dabei in den jeweiligen verschiedenen Herrschaftsgebieten, Rumänien, Tschechoslowakei, wohl auch Rußland (Ruthenien), Italien, Jugoslawien, zu so mancher Abänderung, Umgestaltung und Anfügung gekommen ist, kann nicht Wunder nehmen. Dies mußte vor allem bei jenen Bestimmungen eintreffen, die rein äußerliche Erscheinungsformen geregelt, beziehungsweise festgehalten hatten, wie zum Beispiel die Eintragung von Geburt, Hochzeit und Sterbefall in die Matrikeln der Kirchen. Weiter hatten im Laufe der letzten Jahrzehnte, besonders seit dem ersten Weltkrieg, besonders in Österreich, eine Reihe von Verhältnissen unter den Staatsbürgern Sonderregelungen erfahren, wie die Ehegesetzgebung, das Personenstandsrecht (Standesamt), mannigfache Arbeitsverhältnisse (Angestellten-, Hausbesorgergesetz), das Bestandsrecht (Mietengesetz), der Versicherungsvertrag und andere. Nur in vorsichtigster Weise wurde ein Teil des ABGB selbst während des ersten Weltkrieges durch die sogenannten Novellen textlich abgeändert. Auch die NS-Herrschaft hat mit einer verschwindenden Ausnahme das Werk selbst unberührt gelassen. Vielmehr wurde die betreffende neue Materie jeweils durch Sondergesetze geregelt, die sich meist durch Bezugnahme auf das ihnen korrespondierende Stück des ABGB als ihm mehr oder weniger zugehörig kennzeidi-nen; die neueren Ausgaben des ABGB tragen der geänderten Lage wiederum ihrerseits dadurch Rechnung, daß sie dem einzelnen Paragraphen Hinweise auf das .zugehörige Sondergesetz anfügen und dieses nötigen-falk äudv ausführlich als Anhang bringen. SÄhat dann der Praktiker die Möglichkeit, sich über die jeweils einschlägige Materie zu informieren.

Hinsichtlich dieser Sondergesetzgebung bestehen zweifellos noch bedeutsamere Unterschiede zwischen den einzelnen staatlich verschiedenen Herrschaftsgebieten des ABGB als zwischen dem noch geltenden Urtext selbst.

Seit der. Abschüttelung der NS-Gewalt-herrschaft tritt auch die Rezeption fremden, reidisdeutschen Rechts als schwerwiegende Frage an den österreichischen Juristen heran. Damit ist die Idee der Kodifikation des gesamten außerhalb des ABGB Hegenden Rechtsstoffes aufgetaucht und in der Folge der Gedanke an eine Neugestaltung des gesamten Privatrechtes unter gleichzeitiger Revision des ABGB selbst. Heinrich Klang, der Nestor der österreichischen Juristenschaft, als Herausgeber des berühmten „Klang“, des vielbändigen, mächtigen Kommentars zum ABGB, hat ihm jüngst auf einem in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag Ausdruck- verliehen. Er, unbestritten einer der gründlichsten Kenner des Gesetzes, läßt seine Ausführungen in der Meinung gipfeln, das ABGB stelle, mannigfach unterhöhlt und durch Zutaten entstellt, heutzutage nichts andtres mehr dar als eine Ruine, reif und wert, abgetragen und durch einen entsprechenden Neubau ersetzt zu werden. „Denn“, meint er, „wohnen kann man in Ruinen nicht. Will man sie bewohnbar machen, dann muß man sie restaurieren, wenn aber die Ruine ein Gesetz ist, dann muß man es eben, soll es seinen Zweck erfüllen, revidieren.“

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Diese Worte des Meisters haben auf den ersten Anblick etwas anschaulich Bestechendes an sich. Daß sie aber eine tiefe Tragik, ja die Tragik Österreichs, weltansdiaulidi gesehen, in sich tragen, daß sie den Zerstörungskeim in sich tragen und letzten Endes zu tiefwirkenden Konsequenzen führen müssen, soll hier ausgesprochen werden.

Es geht schon aus der geschilderten Entstehungsgeschichte hervor, daß es sich beim österreichischen ABGB nicht um ein gewöhnliches Gesetz handelt. Seine Genesis weist bereits äußerlich auf zwei wichtige Wurzeln: die über jeden Zwrifel erhabene, hochgemute Gesinnung der Urheber sowie die typisch österreichische, eigenartig im guten Sinne des Wortes ausgeprägte Form, dazu angetan„ dieses Werk als den Spiegel echt österreichischen Wesens erscheinen zu lassen. Sie weist aber damit auf eine weitere, auf die bedeutsamste Wurzel, auf die, welche es allein ermöglichte, dem Werk Form und Inhalt dergestalt zu geben, daß es durch fünf Menschenalter Basis und zugleich Instrument der pax Austriae sein konnte: auf das Naturrecht. Es mag dahingestellt bleiben, ob, wie manche behaupten, die Kantsche Philosophie es war, aus der heraus Männer wie Zeiller die Formvollendung gewonnen haben, fest steht jedenfalls, daß dem ABGB eine hervorstechende Eigenschaft wie keinem zweiten Gesetzeswerk des Abenlandes eignet: die Harmonie, die Ausgeglichenheit der Tatsachen mit den Forderungen unseres Gewissens, der Ethik also. Ohne daß je, wie es neue Rechtsvorschriften sö gerne tun, an irgendeiner Stelle ein Hinweis auf sittliche Forderungen — etwa als Präambel — gestellt würde — es sei denn die vom Vormund bei der Angelobung zu bekundende Erklärung, sein Mündel unter anderem auch zur Gottesfurcht anhalten zu wollen —, ruht doch sieht- und spürbar jedwedes seiner Worte auf einer bewußt die Tatsache anerkennenden Einstellung, daß wir Menschen unter einer Naturrechtsordnung, eines über den Zeiten stehenden Gesetzgebers leben. Wie nun im großen dieses Naturrecht dank seiner Herkunft niemals abgeschafft, sondern höchstens negiert werden kann, ebensowenig kann auch ein das Naturrecht widerspiegelndes Gesetz, sei es das Zehn-gebotewerk, sei es, in gewisser Hinsicht, das ABGB, durch Sonderbestimmungen außerhalb seines Systems außer Kraft gesetzt oder in seinem Wesen geschmälert werden.

Diese Eigenschaft, trotz und gerade wegen der systemfremden Sondergesetzgebungen Maß und Richtschnur zu sein, läßt das ABGB nicht in das von Klang gemalte Bild der Ruinen eingliedern. Das ABGB kann gar nicht „ruiniert“ werden, es kann nur zeitweilig beiseitegeschoben werden. Das ABGB ist nicht nur keine Gesetzesruine, sondern es ist eine höchst konkrete, realste Ordnungsmacht und heute die einzige dauernde Ordnungsquelle, dauernder als Verfassungen. Räumt diesen erhabenen Bau — wenn ihr es vermögt — beiseite und zimmert eine neue Kodifikation der „tatsächlichen“ Rechtsordnung zusammen — und ein Hauptbollwerk menschlicher, aus Ewigem schöpfender Ordnung wäre damit für den Stausbereich dahin. Dann aber, wenn kein Friedenskaiser und kein Friedensrecht mehr da ist, sondern alle mensdilichen Beziehungen im Staate sich nur mehr nach den gegebenen Machtverhältnissen einzelner oder von Parteien regeln — dann ist die Stunde gekommen, wo Dämonen ihre Herrschaft antreten.

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