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Verwaltungsgerichtshof und Sozialversicherungspflicht

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Wie ein roter Faden zog sich durch das österreichische Sozialversicherungsrecht bis zum 31. Dezember 1938, mit welchem Tage ihm die Rezeption des deutschen Reichsrechtes ein vorläufiges Ende setzte, der Gedanke, daß das auf dem Dienstvertrag nach § 1151 ABGB. beruhende Dienstverhältnis, dem ein Arbeits- oder Lehrverhältnis gleichgesetzt wurde, die primäre Grundlage für die Versicherungspflicht in jeglichem Zweige der Sozialversicherung darstejje. Nur dann also, wenn sich jemand für eine gewisse oder auch unbestimmte Zeit für einen andern zu Dienstleistungen verpflichtete, zu ihm in ein Verhältnis der Unterordnung und Abhängigkeit, des Gebundenseins gegenüber seinen Aufträgern trat; wurde er sozialversicherungspflichtig. Denn nur dann lag jene persönliche Abhängigkeit vor, der der Gesetzgeber einen sozialpolitischen Schutz gewähren wollte. Hingegen zogen Vertragsverhältnisse, die auf dem Werkvertrag oder den Vertragsformen des 17. Hauptstückes des ABGB. beruhten, nicht die Versicherungspflicht nach sich. Dieser in Lehre und Praxis unbestrittene Standpunkt schuf eine vollkommen klare Rechtslage, die von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Versicherungsträgern in gleicher Weise gutgeheißen wurde.

Erst die mit 1. Jänner 1939 erfolgte Rezeption des deutschen Sozialversicherungsrechtes konfrontierte die Versicherungsträger der „Ostmark" mit den grundsätzlichen Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes, die ein die Sozialversicherungspflicht nach sich ziehendes „Beschäftigungsverhältnis“ statuierten und die demselben zugrunde liegenden Vertragsformen des bürgerlichen Rechts ignorierten und dies, obwohl das deutsche Sozialversicherungsrecht genau so wie das österreichische als Basis das Dienstoder Arbeitsverhältnis beinhaltete! Da die Versicherungsträger sich diese Intentionen zu eigen machten, war die Folge eine steigende Rechtsunsicherheit. Wer war denn überhaupt noch versicherungsfrei?

Man hätte glauben können, daß der Verwaltungsgerichtshpf, als oberste Spruchbehörde nach dem Mai 1945, wenn auch das deutsche Sozialversicherungsrecht weiter Geltung behielt, dem eingangs geschilderten österreichischen Rechtsgrundsatz „Nur das Dienstverhältnis macht versicherungspflichtig“ wieder Geltung verschafft hätte. Aber dem war leider nicht so, er schloß sich vielmehr der Spruchpraxis des Reichsversicherungsamtes völlig an und bildete die von diesem inaugurierte Lehre von dem die Versicherungspflicht ohne jede Rücksicht auf die Vertragsform begründenden „Beschäftigungsverhältnis“ immer weiter und mit steigender Schärfe aus. Das sind kaum mehr Erkenntnisse, das sind wissenschaftliche Abhandlungen, die die vor dem 31. Dezember 1938 hier übliche zivilrechtliche Betrachtungsweise der Trage der Versicherungspflicht völlig ablehnen. Es ist gewiß sehr interessant, wenn erklärt wird, für das Sozialversicherungsrecht sei nicht die rechtliche Hülle von Belang, sondern nur der Sachverhalt, den sie bedeckt, und der dem Rechtsboden der Sozialversicherung entsprungene Begriff des „Beschäftigungsverhältnisses“ erübrige die Beantwortung der Frage, ob auf der Ebene des bürger lichen Rechtes ein Vertragsabschluß zustande gekommen sei, aber wo befindet sich die Rechtsgrundlage für diese Ansicht? Der Ver- waltungsgerichtshpf kann doch wohl nur bestehendes Recht klären und Zweifel beseitigen, aber neues Recht im Wege der Spruchpraxis schaffen? Das kann nur die ohnehin schon bestehende Verwirrung in dieser Frage nur vergrößern.

Daß der Verwaltungsgerichtshof ein starkes soziales Empfinden hat, sei ihm hoch angerechnet, aber hier geht es ausschließlich um eine Rechtsfrage und er selbst sagt ja in seinem Erkenntnis vom 18. Dezember 1950, ZI. 2166 49 4: Bei der rechtlichen Beurteilung der Frage, ob Versicherungspflicht gegeben sei, kann allerdings der Bedarf nach einer Versicherung nicht ausschlaggebend sein.

Im Bundesministerium für soziale Verwaltung wird gegenwärtig der Entwurf eines allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes ausgearbeitet, das das geltende deutsche Recht ablösen soll; hier wird Gelegenheit geboten sein, dieses brennende Problem einer Klärung Zuzuführen. Es gibt nur die zwei folgenden Lösungen: Entweder kehrt man zum österreichischen Recht der Zeit vor dem 31. Dezember 1938 zurück und findet mit dem Dienst-, Arbeits- oder Lehrverhältnis das Auslangen — und es spricht nichts dagegen, daß dies nicht der Fall sein könnte —, oder aber, man will wirklich den unserer Rechtsterminologie fremden Begriff des „Beschäftigungsverhältnisses“ als Grundlage der Versicherungspflicht annehmen, dann muß er zunächst ausdrücklich im neuen Gesetz angeführt und dort auch so definiert werden, daß jeder Zweifel ausgeschlossen wird. Ob dann aber nicht auch eine Novellierung des ABGB. zwecks Einfügung des „Beschäftigungsvertrages“ notwendig sein wird? Aber wer will es wagen, heute an dem ABGB, auch nur zu rühren?

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