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Wer hat den Krieg gewollt—wer will den Frieden?

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Deutsche und französische Professoren begegnen sich in Paris, „um die Geschichte zu bereinigen“ — das soll heißen, um den kommenden Generationen in der Schule die Ereignisse der Vergangenheit in einem objektiven, „planifizierten" Lichte vorzuführen und nationale Vorurteile sowie atavistische Bitterkeiten dem Schatten der Vergessenheit zu überantworten. Bei diesem sehr begrüßenswerten Unternehmen handelt es sich zunächst darum, klarzustellen, wer — welche Regierung, welcher Staat, welcher Souverän, Diktator, Staatschef — an den erschütternden Kriegen unserer ersten Jahrhunderthälfte „schuld“ ist, wer den Krieg gewollt hat oder doch nicht verhindern wollte.

Nach dem ersten Weltkrieg, zur Zeit, als die österreichische Völkerbundliga noch bestand, hat deren Präsident, Botschafter Dumba, bezüglich der „Kriegsschuld“ von 1914 in den österreichischen, deutschen und französischen Archiven ähnliche Erhebungen einleiten lassen. Dabei wurde nichts Präzises ermittelt. In den Archiven der drei Staaten ließ sich angeblich nicht feststellen, daß eine der Regierungen oder sonst ein maßgebender Faktor den Krieg gewollt hätte. Ein anderes Ergebnis konnte man sich auch wohl nicht erwarten.

Die Völker oder eines der beteiligten Völker, das ist die überwiegende Mehrheit der in den betreffenden Staaten vereinigten Men schen, hat zu unseren Zeiten doch nie und nimmer einen Krieg gewollt — und die Menschen, die zur Vertretung der Völker, zur Kundgebung ihres Willens berufen sind, können nicht verantwortlich gemacht werden, insolange sie unter einem Sammelnamen, wie „Staat“, „Regierung“, „Parlament“, eine Deckung finden.

Unverkennbar war allerdings immer, daß die Angehörigen bestimmter Stände ein berufliches oder materielles Interesse an der Herbeiführung eines Krieges hatten. Militärs sahen darin die Bestätigung ihres Berufes — und vielleicht auch Aussichten auf bessere Karriere —, Geschäftsleute erwarteten ganz besondere Geschäftskonjunkturen. Je mehr

Einfluß auf die Führung der Staatsgeschäfte die betreffenden Stände gewannen, desto wirksamere Kräfte ergaben sich, die zum Kriege führen konnten.

Unsinnig und ungerecht wäre es aber, in allen Fällen von der „Kriegsschuld“ eines ganzen Standes ebenso wie eine Staates oder einer Regierung zu sprechen. Alle diese

Sammelnamen dienen zur Deckung der schuldigen Menschen. Ein wirksamer Schutz gegen jede Tätigkeit, die mittelbar oder unmittelbar zum Kriege führen kann, liegt darin,

jeden Menschen — ohne Rücksicht auf seine Zugehörigkeit zu einem Stande oder zu einer Behörde, Regierung, Parlamentspartei u. dgl. — für jedes Tun und Lassen, das die Völker, die Staaten, die Rassen gegeneinander verfeindet, persönlich vor unabhängigen Gerichten verantwortlich zu machen, und zwar sowohl für die Initiative wie für das Mitwirken oder Einstimmen in eine Propaganda.

Aber auch ganz abgesehen davon, daß es nicht kriegsschuldige Völker und auch nicht kriegsschuldige Staaten oder Stände, sondern nur kriegsschuldige Menschen gibt, wird es sich bei der Suche der französischen und deutschen Professoren, die sich erfreulicherweise vereinen, nicht darum handeln, zu finden, ob jemand und wer von den Staatsregierungen oder Einzelpersonen den Krieg gewollt oder nicht gewollt hat (heutzutage will ja niemand den Krieg gewollt haben). Interessanter aber als die Frage, wer den Krieg gewollt hat, scheint mir die Frage, wer den Frieden gewollt hat — denn der Friede muß errungen, verdient, erhalten, sein Wert muß im Volksbewußtsein verankert werden. Kriegsschuldig ist jeder Mensch, der es unterläßt, im Rahmeh seines ganzen Einflusses, seines Wissens und Könnens den Wert des Friedens auf moralischem und wirtschaftlichem Gebiete voll und ganz zur Geltung zu bringen; kriegsschuldig ist, wer nicht dafür eintritt, daß wir Menschen über Staatsgrenzen, Rassenunterschiede, sprachliche Verschiedenheiten, religiöse und ideologische Gegensätze und alles sonstige Trennende hinweg einander brauchen und ein Recht haben auf die Achtung der Menschenrechte aller Menschen und hiermit auf die Erhaltung des Friedens, denn der Krieg ist die böseste systematische, organisierte Verletzung der Menschenrechte.

Begrüßen wir also freudig das Zusammentreten der französischen und der deutschen Professoren. Sie beginnen ihre Tätigkeit mit der Reinigung des Geschichtsunterrichtes von nationaler Voreingenommenheit und mit der objektiven Darstellung geschichtlicher Wahrheit. Begrüßen wir diese Tätigkeit, denn von Jugend auf sollen alle Menschen durchdrungen sein vom Verständnisse für das Tun und Denken aller Völker, für die Notwendigkeit friedlicher Zusammenarbeit Und vom Bewußtsein unserer Pflicht, den Frieden zu wollen!

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