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Gerechtigkeit

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„Wenn ... Euch im Augenblick aber jene stetigen, vielfachen Kämpfe bedrängen, wie sie in revolutionären Zeiten Tag für Tag zu entstehen pflegen, so muß sich einfach jedermann, dem die Gottheit auch nur einen Funken Verstand verliehen hat, darüber klar sein, daß es in einer Revolution kein Ende der bösen Taten gibt, bis die Sieger In den Kämpfen aufhören, sich an ihren Gegnern zu rächen. Vielmehr müssen sie sich selbst in Zucht nehmen, allgemeingültige Gesetze geben, die um kein Haar mehr zu ihrem Privaivorteil beitragen als zu dem der unterliegenden Partei, und diese Partei nur durch zwei Zwangsmittel zwingen, ihren Gesetzen zu gehorchen: durch Scham und Furcht. Durch Furcht, indem sie zeigen, daß sie ihnen an Gewalt überlegen sind; durch Scham aber, indem sie sich selbst als überlegen gegenüber ihren Leidenschaften erweisen und als Männer, die vor allen anderen willens und fähig sind, sich den Gesetzen zu beugen. Auf eine andere Weise kann eine von Revolutionen heimgesuchte Stadt wohl nie zur Ruhe kommen.“ P1 a t o in seinem Briefe an die Freunde und Verwandten Dions

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„Wenn ... Euch im Augenblick aber jene stetigen, vielfachen Kämpfe bedrängen, wie sie in revolutionären Zeiten Tag für Tag zu entstehen pflegen, so muß sich einfach jedermann, dem die Gottheit auch nur einen Funken Verstand verliehen hat, darüber klar sein, daß es in einer Revolution kein Ende der bösen Taten gibt, bis die Sieger In den Kämpfen aufhören, sich an ihren Gegnern zu rächen. Vielmehr müssen sie sich selbst in Zucht nehmen, allgemeingültige Gesetze geben, die um kein Haar mehr zu ihrem Privaivorteil beitragen als zu dem der unterliegenden Partei, und diese Partei nur durch zwei Zwangsmittel zwingen, ihren Gesetzen zu gehorchen: durch Scham und Furcht. Durch Furcht, indem sie zeigen, daß sie ihnen an Gewalt überlegen sind; durch Scham aber, indem sie sich selbst als überlegen gegenüber ihren Leidenschaften erweisen und als Männer, die vor allen anderen willens und fähig sind, sich den Gesetzen zu beugen. Auf eine andere Weise kann eine von Revolutionen heimgesuchte Stadt wohl nie zur Ruhe kommen.“ P1 a t o in seinem Briefe an die Freunde und Verwandten Dions

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Seit mehr als einem Jahrzehnt ist Europa von einer geistigen Epidemie befallen, die für die Zukunft unseres alten Kontinents und seiner Kultur das Schlirrumste befürchten läßt. Nicht anders denn ab Epidemie tritt der Wahn auf, durch Umsiedlung und Aussiedlung großer Völker ein friedliches Zusammenleben der europäischen Nationen heraufführen zu wollen. Der Mann, der diese verhängnisvolle Verwechslung der Begriffe in die europäische Politik gebracht und sich mit dem Verbrechen beladen hat, Millionen Menschen von ihrer Scholle wegzureißen und heimatlos gemacht zu haben, ist Adolf Hitler. Es mußte mit Entsetzen erfüllen, als er im Herbst 1939 den Beginn der Umsiedlungsaktionen in Europa ankündigte und in der Folge ein Gebiet nach dem anderen dem Wüten gegen den geheiligten Menschheitsbezirk „Heimat“ zum Opfer fiel. Eine Welle ursprünglichen Mitgefühls für die betroffenen Polen, Slowenen, die Tschechen — und nicht zuletzt für die außerordentlich schwer heimgesuchte Bevölkerung der russischen Kriegsgebiete — ging angesichts der Geschehnisse durch unser Volk. Die Verschleppungen Hunderttausender aus vielen Nationen in die Sklaverei der Arbeitslager des Reiches machte dann fast alle Völker Europas zu einer einzigen Leidensgemeinschaft.

Hitler ist tot, das nationalsozialistische System hinweggefegt, der Krieg ist zu Ende. Unter der Flagge der Humanität soll Europa wieder aufgebaut werden. Wir glauben an eine Zukunft echter Menschlichkeit. Deshalb wollen wir aber die Augen nicht davor verschließen, daß noch immer der Geist der Rache das Feld behauptet und dazu treibt, den Prozeß der Nomadisierung Europas fortzusetzen. Alles Unrecht, das der Nationalsozialismus europäischen Völkern getan hat, kann dafür keine Rechtfertigung sein, daß man mit denselben Methoden antwortet, von neuem Millionen unschuldiger Menschen in Not und Elend stürzt, ihnen die Heimat nimmt und Hunderttausende dem Tode preisgibt. Ein Unrecht wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß man an seine Stelle ein neues setzt. Man sollte nicht erst durch neue Erfahrungen belehrt werden, daß sich der Rächer stets selbst schädigt, an eigener Seele und am eigenen Leib Schaden nimmt, wenn er über die unabänderlichen Gesetze der Menschlichkeit und Menschenwürde hinwegschreitet.

Die englische Presse hat sich durch zahlreiche Veröffentlichungen verdient gemacht, in denen sie der Weltöffentlichkeit die furchtbare Not von Millionen Deutschen zeigte, die schon vertrieben worden sind oder noch von ihren Heimstätten, die sie seit vielen Jahrhunderten bewohnen, vertrieben werden sollen. Aber es ist die Erkenntnis noch nicht europäisches Gemeingut geworden, welch ein Problem der v Gemeinschaft der europäischen Nationen durch die Umsiedlungsvorgänge im Herzen des Abendlandes “gestellt ist. Und man könnte verzagen angesichts der Gleichgültigkeit in Ost und West, gäbe es nicht wenigstens einen Hort der Menschlichkeit in unserer düsteren Gegenwart, vor dem nicht nationale und staatliche Egoismen zählen, sondern vor dem die Menschen als Menschen gewogen und gewertet werden. Wie der Heilige Vater vor wenigen Jahren, als ' deutsche Heere tief im Innern Rußlands standen, alle Versuche, ihn unter dem Motto des Kampfes gegen den Bolschewismus zü einer antirussischen Einstellung zu bestimmen, zurückwies, wie der Vatikan während des ganzen zweiten Weltkrieges die Rechte des Polentums verfocht, so hat auch jetzt Papst Pius XII. in seinem Hirtenbrief, den er vor wenigen Tagen an die deutschen Bischöfe gerichtet hat, seine Stimme erhoben für die Millionen, die heute im Osten Deutschlands die Untaten des Nationalsozialismus mit unerhörten Leiden begleichen müssen. Nicht ohne Erschütterung liest man 'die Worte, mit denen das Oberhaupt der katholischen Kirche die düstere Atmosphäre der europäischen Gegenwart zeichnet, um dann warnend der Welt zuzurufen: ,fWir sind uns der traurigen Ereignisse voll und ganz bewußt, die sich in den letzten Monaten in Ostdeutschland zugetragen haben, und wir legen allen ernstlich nahe, nicht Gewalt mit Gewalt zu vergelten, sondern Gerechtigkeit zu üben und nicht mit jenen, die wirklich schuldig sind, gleichzeitig die zu bestrafen, die mit Kriegsschuld und anderen Verbrechen nichts zu tun haben. Möge der gemeinsame katholische Glaube, dem so viele auf beiden Seiten angehören, den furchtbaren Haß und Kampf zurückdämmen und die Menschen zur Befriedung und Versöhnung führen.“

Unermeßliche Leiden werden noch Millionen unschuldiger Menschen hinnehmen müssen, bevor alle Berufenen dieser Mahnung des großen Völkerhirten Gehör geben, und weite Gegenden, die einst blühende Gärten europäischer Kultur gewesen sind, werden brach liegen, ,bar der Pflege der gewohnten Hände, überlagert von menschlicher Zwietracht und Feindschaft. Aber es gibt doch eine Stelle auf unserer gequälten Erde, wo nicht das Gesetz der Wüste, der Zeit ohne Rechtsschutz und Rechtspflege, das furchtbare „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gilt, wo nicht die Rache als der Weisheit letzter Schluß angesehen wird, sondern die Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit werden die Abgründe nicht überwunden, die immer wieder durch die menschlicheri Leidenschaften zwischen den Völkern wie zwischen den einzelnen aufgerissen werden und die, würden sie nicht überwunden werden, das Abendland in der Tat dem Untergang zuführen müßten.

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