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Der Mann vom Montecitorio

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Dem Besucher der großen politischen Konzerte im römischen Parlamente am Monte- citorio fällt inmitten der in südländischer Leidenschaft oft gewaltig hochgehenden Wellen ein Mann auf dem Platz des Ministerpräsidenten auf, den dieser ganze gewaltige Stimmaufwand nichts anzugehen scheint. Träumt dieser alte Politiker aus dem tren- tinischen Valsugana von seinen Bergen, von seinen vielen Wanderungen über Joche und Gipfel, die ihm selbst noch in vorgerückten Jahren das Ideal jeder Feriengestaltung bedeuten? Er blickt unbewegt vor sich hin, als ob nicht er selbst und die von ihm geführte Politik im Brennpunkt der Debatten stünde, die die Gemüter erhitzen — bis der Sturm sich gelegt hat, bis der letzte Oppositionsredner die letzten Pfeile seines Köchers verschossen hat; da, in diesem Augenblick, kommt Leben in diesen Einsiedler, er reckt sich und — beginnt überlegen ruhig, als hätte er eine wissenschaftliche Analyse zu besorgen, alle vorgebrachten Akkorde aneinanderzureihen, sie zu werten, sie anzuerkennen oder sie ebenso überzeugend zu widerlegen. Jeder, auch der Gegner fühlt: ein tüchtiger Denker und Lenker steht dort am Pult, gegen ihn versagen die Waffen der Demagogie. Selten ist es vorgekommen, daß sich der Sturm von neuem erhoben hätte, nachdem e r gesprochen hatte: Alcide Degasperi, seit den ersten Nachkriegswahlen am 2. Juni 1946 Ministerpräsident der neuen Republik.

Wenn Senatspräsident Bonomi erst kürzlich den Premier als den „großen parlamentarischen Taktiker, - hervorgegangen aus der altösterreichischen Schule" bezeichnete, so gibt er damit die Meinung wieder, die man heute auf der italienischen Halbinsel von Politikern und Journalisten immer wieder zu hören bekommt: „Die altösterreichischen parlamentarischen Körperschaften mit den vielfarbigen Nationalitätenproblemen waren eine Meisterschule, und Degasperi hat dies Schule als Vertreter der italienischen Volksgruppe Südtirols mitgemacht..

Als die Democristiani die Regierung übernahmen und besonders nach den Wahlen mit 13 Millionen Stimmen eine bedeutende Übermacht in den Kammern erlangt hatten, gab es viele, auch maßgebende Democristiani, die nach einem politischen „Reinemachen" auf den wichtigsten nationalen Gebieten, vor allem in der Wirtschaft und Finanz, riefen. Degasperi sträubte sich mit aller Kraft dagegen, wies darauf hin. daß die Partei ja nur 1,400.000 eingeschriebene Mitglieder zähle. Die Wähler wollen offensichtlich eine aktive und starke Regierung, unter Heranziehung aller fähigen und aufbauwilligen Kräfte, ohne ausgesprochene Betonung eines parteipolitischen Kurses. So finden wir heute im Lande die überraschende Tatsache, daß an wichtigsten wirtschaftlichen und finanziellen Positionen gar keine Democristiani stehen. Die Banca d’Italia, die I. R. I., die beiden wirtschaftlichen Eckpfeiler, die Institute öffentlichen Rechtes, die großen Versicherungsgesellschaften, sind von den Democristiani unbeeinflußt. Desgleichen die größten Industrieunternehmen, wie Fiat, Monte- catini, Snia, Pirelli, ebenso wie die großen Werke der Elektroindustrie. „Für die Besetzung von Schlüsselstellungen ist nicht die Parteizugehörigkeit, sondern die Fähigkeit des einzelnen ausschlaggebend", betonte Degasperi immer wieder. Die strikte Einhaltung dieses für einen Staat lebenswichtigen Grundsatzes hat in den letzten Jahren die Basis einer Politik immer weiter verstärkt.

Selbst bei den erbittertsten Gegnern findet der Ministerpräsident Anerkennung dafür, daß er bestrebt ist, di demokratischen Grundsätze nicht nur in der Verfassung verankert zu wissen, sondern sie auch im parlamentarischen und im anderen nationalen Leben verwirklicht zu sehen. Die Art, wie in Italien heute Gesetze „gemacht“ werden, ist bezeichnend. Degasperi läßt nicht nur die Redner der Regierungsparteien, sondern ebenso die Opposition in der oft ausgedehntesten Art zu Worte kommen und öffnet selbst vor der parlamentarischen Behandlung der Presse Möglichkeiten, sich mit der vorgesehenen Materie öffentlich zu befassen. Dadurch wird ein mehrfaches Ziel erreicht: das Volk lernt den Inhalt des Gesetzes, von allen Seiten beleuchtet, kennen, eine ungesunde, unsachlich Opposition läuft sich tot, so daß es schließlich Degasperi oder dem Ressortminister nicht schwer ist, dem Gesetze im Resümee der Debatte eine Begegnung zu geben, die bereits auf das Verständnis der Volksmassen stößt. Diese Taktik konnte man bei Verabschiedung aller irgendwie bedeutungsvolleren Gesetze beobachten. Augenblicklich zum Beispiel bei Behandlung des Gesetzes über die Bodenreform.

Nach den Wahlen vom 18. April des Vor. jahres wurden ein Verbot der Kommunistischen Partei und andere drakonische Maßnahmen von vielen erwartet und vorausgesagt. Die Machtmittel dazu hätte Degasperi zweifellos gehabt, aber er wandte sie nicht an und wollte sie nicht anwenden. Ein von ihm oft ausgesprochener Grundsatz ist: Solange die Gegner mit demokratischen Mittel uns bekämpfen, haben sie Existenzberechtigung; der Gewalt wird Gewalt entgegengesetzt. Der Ministerpräsident ließ zahlreiche Waffenlager ausheben und die Polizeikräfte zur Aufrechterhaltung der Ord-

nung wesentlich verstärken, so daß sie heute fast die doppelte Stärke des Heeres haben. Eine Warnung zugleih und eine Vorkehrung gegen gefährliche Versuchungen. Dieselbe Haltung nimmt Degasperi den Neofaschisten gegenüber ein, der MSI (Movimento Sozialista Italiano), denen er durh seinen Innenminister Scelba zu verstehen gab, daß die Partei nicht verboten, aber deren Ortsgruppen sofort dort aufgelöst würden, wo sie die öffentlihe Ordnung störten. So werden auch eht altfaschistische Feiern oder gesetzlich verbotene monarhistishe Demonstrationen kaum beahtet... es fehlt der Widerstand. Die shönste feuerspeiende Demagogie wird lächerlich und erledigt sih bald von selbst.

Seine Gegner haben ihn einen „lächerlichen Taktiker“ genannt, ein Journalist einmal „unseren blinden Kanzler mit der ungeputzten Brille“ — weil er erst umständlich seine Brille zu putzen pflegt, wenn er eine Antwort besonders überlegt. Als aber der Augenblick der großen Entscheidung für ihn und die Nation, der Wahlkampf im vergangenen Jahr, kam, da zeigte dieser Mann, der in einem harten, an Entbehrungen und Verfolgungen reihen Leben die Kunst des Zuwartens bis zur Vollendung gelernt hat, daß er kein „lächerlicher Taktiker“, sondern ein sehr ernstzunehmender Stratege ist.

Kenner des italienishen Nationalharak- ters fragen sih, wie denn dieser Mann, der am liebsten grau gekleidet ist, immer kühl und ruhig und überlegend bleibt, keine großen Gesten liebt und die Phantasie der Menge so gar niht anregt, es trotzdem zustande bringt, dieses Volk nun shon Jahre hindurch zu führen. Henry Luce, der amerikanische Zeitungskönig und Herausgeber der Zeitschriften „Life“ und „Time“, hat nah seiner Italienreise gesagt, Degasperi sei der einzige Italiener gewesen, der niht versuht habe, sympathisch zu wirken. Vielleicht liegt gerade in dem Fehlen gewisser, fast allgemein verbreiteter Nationaleigenshaften ein Erfolgsgeheimnis Degasperis? Er hat es abgelehnt, sih die Wochenschauen, in denen er auftritt, vorführen zu lassen, er interessiert sich niht für die Schallplatten mit seinen Reden. Weder die kleinen Bosheiten seiner römischen Hausfrau, einer monarchistisch gesinnten Gräfin, noch die Dauerreden der Opposition vermögen ihn aus der Ruhe zu bringen.

Kurz vor dem Höhepunkt der Schlacht um den Atlantikpakt, nachdem er stundenlang ruhig den Oppositionsrednern zugehört hatte, zog er sich mit Saragat einen Augenblick zur Arbeit in einen Nebenraum des Hauses zurück. Da stürzte plötzlih der Leiter des parlamentarischen Ordnungsdienstes, sonst ein ruhiger, beherrschter Mann, herein: „Exzellenz, drinnen stürzt die Welt ein“. Degasperi schrieb weiter: „Die Herren Abgeordneten kämpfen, es regnet Ohrfeigen, Faustshläge ... !“ Der Ministerpräsident sah nicht von der Arbeit auf. „Es fliegen sogar Tischladen durch den Saal“, ähzte der Beamte, verzweifelt über so viel Phlegma. Da schob Degasperi die Brille hoch, sah ihn von unten an und fragte, ohne den Kopf zu heben: „Wie viele?“

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