6628051-1956_21_04.jpg
Digital In Arbeit

Die falsche NATO-Krise

Werbung
Werbung
Werbung

Uas verteiaigungsKonzept, wie es seinerzeit den Verantwortlichen des nordatlantischen Vertragswerkes in Lissabon vorschwebte, ist nie mit echter Macht aufgefüllt worden. Während das gewaltige, bogenförmige Hauptquartier der NATO am Bois des Bologne allmählich über die Fundamente in die stattlichen Kosten von 100 Millionen Schilling und mehr hineinwächst, steht in Europa nicht eine Macht von 56 Divisionen, sondern von knapp 30, auch von dieser „Papierstärke“ wird in den nächsten Monaten noch ein Teil der Effektivbestände in den Weiten Nordafrikas verzettelt werden. Die wirkliche NATO-Stärke ist angesichts der Tatsache, daß die zwölf deutschen Divisionen noch lange auf sich warten lassen werden, auch dann völlig ungenügend, wenn die Sowjets auf dem konventionellen Rüstungssektor dramatische Einsparungen proklamieren sollten. Man muß sich ja nur die Frage stellen, welche Reserven eigentlich übrigbleiben würden, wenn die Briten im Nahen Osten eingreifen müßten — und es gibt bestimmte Fälle, wo sie, sich dazu verpflichtet haben —, wenn es in Malaya zu schweren Unruhen kommen sollte oder wenn das. Pentagon, gemäß des SEATO-Vertrages, ein fernöstliches Engagement einzugehen hätte. Und wie würde sich die Lage gestalten, wenn all diese Notfälle, gemeinsame Leitung verratend, gleichzeitig eintreten sollten?

Es wäre daher nicht weiter verwunderlich, wenn das Vertrauen in den NATO-Schild einen Sprung erhalten hätte und man sich da und dort mit dem Gedanken beschäftigte, ob denn die aufgezogene Organisation jemals die ihr: gestellte Aufgabe erfüllen würde. Das Merkwürdige ist aber, daß die in den letzten Monaten um die NATO ausgebrochene „Malaise“ ganz a'ndere Ursachen hat. Die Krise wurde keinesfalls durch die Erkenntnis ausgelöst, daß die primäre Aufgabe nicht gelöst wurde, sie ist vielmehr durch die Meinung bedingt, daß sie entweder bewältigt ist oder nicht mehr bewäl- . tigt werden müsse und daß die NATO daher entweder einen neuen und zusätzlichen Inhalt eihalten oder sich allmählich auflösen werde. Offenbar ist der ungesunde Angstkomplex der Nachkriegszeit nun durch einen ebenfalls unge-' sunden Sicherheitskomplex abgelöst worden.

Es gilt nun vor allem einmal ausfindig zu machen, was denn die eigentliche Ursache des gegenwärtigen Unbehagens und der im Westen so deutlich verspürbaren Unruhe sein könnte! Die Politik der atlantischen Mächte und vor allem die Politik Nordamerikas hatte in der ersten Nachkriegszeit ihre großen, schöpferischen Augenblicke: die Truman-Doktrine, der Marshall-Plan, das nordatlantische Vertragswerk wie die UNO-Intervention in Korea; all das zeigte Kraft, Mut und schöpferische Phantasie; es gelang, dem Gegner das Gesetz des Handelns aufzuzwingen. Nun ist eine Periode eingetreten, die den hinreißenden Schwung jener großen Tage vermissen läßt, eine gewisse Sterilität ist unverkennbar, und die Masse, auch die ökonomisch saturierte Masse, erwartet Initiative, echte politische Initiative; man erträgt es einfach nicht, auf den nächsten Schritt der Sowjets zu warten. Und so tief ist das .nordatlantische Vertragswerk bereits im politischen Denken-und Fühlen der westlichen Welt verankert, daß man die Wendung von diesem Zentrum erwartet; von hie aus sollen neue Kraft und neue Impulse ausgehen! Das ist schön, aber es ist zugleich: gefährlich: Denn NATO ist im Grunde doch eine militärische Institution; trotz des berühmten Artikels 2, den der italienische Präsident in Washington und später Pineau in Paris so stark hervorgehoben haben (Pineau spricht von der Notwendigkeit, „Verhältnisse der Stabilität und Wohlfahrt zu schaffen“, und fordert die Mitglieder auf, „Spannungen in ihrer internationalen und wirtschaftlichen Politik auszuschalten“), hat man hier kein Forum schöpferischer Gedankengänge geschaffen, und die Staatskanzleien haben nur wenig politische Autorität an das neue Instrument abgetreten. Die Erwartung also, daß von der NATO selbst die erlösende Initiative kommen werde, hat nur dazu geführt, daß eine echte Führungskrise der Freien Welt von einer falschen NATO-Krise überlagert wird. Dies hat den Nachteil, daß man zunächst gar nicht an die grundlegenden Fragen herangeht und ein modernes Konzept der Ost-West-Relation entwirft, vielmehr zuerst dort Bewegung zeigen will, wo sie erwartet wird. All diese Bemühungen stehen unter der Parole „NATO mit neuem Inhalt erfüllen“, die Positionslichter werden dort gesteckt, wo man sie erwartet, können also keine neue Route anzeigen.

Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß die Versuche keinen besonderen Erfolg hatten, vielmehr erzeugte man einen Circulus vituosus: Das populäre Mißverständnis vcranlaßte die Staatsmänner, das zu tun, was man eben von ihnen erwartet: ihr Handeln vertieft das Mißverständnis und das verstärkte Mißverständnis macht neue Vorstöße in die falsche Richtung notwendig. Linter diesem Gesetz steht das Geschehen der letzten Monate: Zuerst wurde von jenseits des Atlantiks angeregt, die Hilfe an die unentwickelten Gebiete über die NATO zu leiten; da diese Organisation von den Russen aber sehr viel schärfer angegriffen wird als die Regierung der USA selbst, würden so die Völker, die die Hilfe brauchen, aber sich durch ihre Annahme an keinen Block binden wollen, in eine schwierige Lage kommen. Die Franzosen, die sich in letzter Zeit sehr den Kopf zerbrechen, wie man das amerikanische Geld mit größerer Liebenswürdigkeit ausgeben könnte, schlugen deshalb vor, lieber die UNO einzuschalten; aber Präsident Eisenhower winkte rasch ab, so daß die Dinge nun dort stehen, wo man sie von Anfang an hätte lassen sollen. Als nächstes kam der Gedanke, eine Art atlantisches Kabinett zu bilden, ein großer Gedanke, der aber eine sorgfältige und lange Vorarbeit erfordert hätte und, so wie die Dinge liegen, in der Luft hängt. Die Italiener schalteten sich nun mit Vorschlägen ein, die an sich sehr vernünftig sind, die OEC solle durch spezialisierte Büros ergänzt werden, die eine stärkere Kapitalinvestition der reicheren NATO-Länder in Süditalien, Griechenland und der Türkei ermöglichen sollen. Dieser Plan, der besonders angesichts der sich ständig verschärfenden Wirtschaftskrise der Türkei von Bedeutung sein könnte, ist aber gewiß nicht das, was die westlichen Massen unter einem „neuen Inhalt“ verstehen, und wie zur Illustration, daß die politischen Gedanken in eine Sackgasse geraten sind, taucht das ominöse Schlagwort „Kulturaustausch“ auf. Kultureller Austausch innerhalb der atlantischen Gemeinschaft sagen die einen, Pineau aber möchte darüber hinaus noch Frankreich zu einem Umschlagplatz zwischen Ost und West machen. „Ich werde die französische Politik systematisch auf den kulturellen Austausch zwischen Ost und West ausrichten.“ Als ob man da lenken, fördern, dirigieren und ausrichten könnte! Auch fremde Welten und feindselige Systeme befruchten und beeinflussen sich gegenseitig, das österreichische Barock ist etwa ohne die Türkenkriege nicht denkbar, aber die Befruchtung erfolgte hier im Rahmen einer großen, keinesfalls lenkbaren Begegnung und nicht dadurch, daß man in einer Waffenpause türkische Gaukler in der spanischen Reitschule hätte gastieren lassen.

So also standen die Dinge, als die Frühjahrstagung der NATO in Paris zu Ende ging; man hat abschließend noch das Komitee der „drei Weisen“ geschaffen, die sich über die Quadratur des Zirkels weiterhin den Kopf zerbrechen sollen und gibt sich im übrigen der Hoffnung hin, daß es Lord Ismays Nachfolger, dem ungemein fähigen und begabten Kanadier Lester Pearson, der im nächsten Frühjahr das Amt des Generalsekretärs übernehmen soll, gelingen würde, sich im NATO-Verband eine Stellung zu verschaffen, wie sie Hammarskjöld in der UNO besitzt.

Vielleicht wird man den Ausdruck „Quadratur des Zirkels“ ein wenig zu pessimistisch empfinden. Es ist aber notwendig, einmal auszusprechen, wie sehr es der NATO an politischer Autorität mangelt, und daß sich daran nur etwas' ändern wird, wenn alle Staatskanzleien etwas von ihrer Entschlußgewalt an diese Organisation abtreten. Bevor man also nach „neuem Inhalt“ ruft, muß man „neue Macht“ gefordert haben, das ist die eherne Reihenfolge der Dinge, und man muß hinzufügen, daß solches Verlangen zwar bei den meisten Völkern, nicht aber bei den Staatskanzleien populär ist. Die größere Macht müßte dann sicherlich im Sinne einer weiteren Integration, im Sinne einer echten atlantischen Gemeinschaft genutzt werden. Auch das ist heute nicht viel mehr als ein Schlagwort, und zwar ein Schlagwort, dem man immer dann begegnet, wenn es so aussieht, als könnte wenigstens der Zusammenschluß von „little Europe“ ein Stückchen vorangetrieben werden. In Wirklichkeit sind aber die Anhänger von „little Europe“ keinesfalls präsumptive atlantische Hochverräter; der größere Zusammenschluß müßte ja doch über regionale Etappen geführt werden und das Europa der Montanunion müßte ein kompakter, einheitlicher Wirtschaftskörper geworden sein, ehe es eine engere Bindung mit Nordamerika eingehen könnte. Das Präludium solchen Zusammenschlusses aber wäre sicherlich eine anglo-britische Annäherung im Geiste Wendel Wilkies. Das sind Piojekte auf sehr lange Sicht; die englische Führungsschichte unter dem gewiß nicht von Phantasie geplagten Eden steht all dem mit Feindseligkeit gegenüber. Es wäre daher zweckmäßig, zunächst alle Energien auf die Verwirklichung von „little Europe“ zu konzentrieren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung