6640425-1957_42_01.jpg
Digital In Arbeit

Die Großen leben auf dem Mond

Werbung
Werbung
Werbung

Die Wiener Atomkonferenz, die, wenn sie Glück hat, ihr Werk im toten Winkel der aufeinander gerichteten interkontinentalen Raketen aufbauen wird, die jedenfalls der Schatten des Erdsatelliten getroffen hat, gibt dem Verfasser’, der inzwischen wieder von New York nach Wien zurückgekehrt ist, die Gelegenheit zu einigen Anmerkungen, die über die praktischen Probleme, die ihn früher beschäftigten, weit hinausweisen, trotzdem aber des realistischen Hintergrundes keineswegs entbehren.

Die technische Entwicklung unseres Zeitalters ist für die einen Grund, sich einem naiven Optimismus ohne Grenze, für die anderen aber, sich pessimistischer Apathie zu überlassen. Die ruhige, ‘ kritische, christliche Betrachtung der Zeit und ihrer Zeichen wird sich keiner der beiden Gefühlslagen überantworten dürfen. Die grenzenlos optimistische Auffassung verbindet Amerikaner und Russen in seltsamer Bruderschaft; sie verbindet auch die allermeisten Staatsführungen, wenigstens in ihren offiziellen Kundgebungen, mit den Regierungswissenschaftlern, vor allem wo diese nur noch enge Spezialisten sind. Die entgegengesetzte, pessimistische Einstellung in den verschiedensten Spielarten herrscht in den breiten Schichten der Völker aller Kontinente vor, die durchschnittlichen Amerikaner nicht ausgenommen, wo immer man die einzelnen Menschen auf Herz und Nieren prüft. Niemandem ist wirklich wohl bei der Ueberlegung, wie herrlich weit es doch die moderne Technik gebracht hat.

Allerdings kann es auch einem ernsten wissenschaftlichen Denken nicht verboten sein, in der Gesamtdeutung unserer Zivilisation zuerst einmal bis auf bessere Beweise hin stärker nach der pessimistischen Seite zu neigen. Dies ist schon deshalb empfehlenswert, weil der naive Optimismus offenkundig ein pragmatisches Prinzip ist, das die allergrößte Gefahr läuft, einer menschen- wür.’igen Entwicklung der Atomzivilisation und ihrem relativen Funktionieren, gerade weil er sie antreibt, eher hindernd, auf alle Fälle aber komplizierend in den Weg zu treten. Die Atomzivilisation vor den Toren unseres Zeitalters hat einen so ungeheuren Auftrieb, daß eine Art Bremsvorrichtung dagegen in den großen und guten Geistern der Menschheit nicht das Schlechteste wäre. Erst die rechte Dosis einer gesunden Skepsis in vielen Menschen auf führenden Posten gegenüber der gesamten Atomentwicklung für Krieg und Frieden wird die entfesselte Urgewalt, wenn schon nicht mehr restlos zurückbinden, so wenigstens in solche Bahnen lenken können, daß ihre ungefähre Be- meisterung menschenmöglich wird. Man müßte also eigentlich eine Antiatomkonferenz des Geistes um der Atomkraft selber willen organisieren. Das ist die Formel, von der aus gesehen scharfe Kritik an der Unreife der Atomzivilisation. die trotzdem in rasanter Entwicklung vorandrängt, wenn nicht vorangetrieben wird, mehr als berechtigt ist.

Wenn nicht nur die beiden Atomweltmächte in Ost und West mit dem ihnen gernJ am eigentümlichen besonderen Enthusiasmus das Technische sich der Atomentwicklung bedingungslos hingeben, sondern auch die anderen Völker, die es nur als Satelliten tun können, dann wird auf alle Fälle die Atomzivilisation von Krise zu Krise, von Katastrophe zu Katastrophe fortschreiten, auch wenn Atomkrieg und Atomkataklysmus wunderbarerweise vermieden werden können. Nur wenn starke gei stigę Gegenkräfte mit gesunder Skepsis sich ralliieren und wenigstens gelegentlich durchsetzen, dann wird vielleicht auch diese gewaltige Macht, die der Mensch sich in keiner guten Stunde angeeignet hat, eingeordnet werden können in seine geistige Aufgabe, die gerade im Zeichen der vorherrschenden technischen Zwangsläufigkeiten nicht vergessen werden darf.

Diese Ueberlegungen erhalten durch die Sensation vom 28. August und 5. Oktober, die russischen Raketen und Satelliten betreffend, einen neuen, noch aktuelleren Sinn. Mit guten Gründen kann man Voraussagen, daß von nun an erst recht sich Ost und West ineinander verbeißen werden, um sich immer wieder mit zusätzlichen Sensationen um einige Nasenlängen zu übertrumpfen. Das mag auch. Jahrzehnte roweitergehen, wenn es gelingt, das Spannungsverhältnis der Weltmächte ohne Explosion durchzuhalten, woran offenbar beide Partner sowohl interessiert sind als auch arbeiten. Alle geistigen Kräfte in beiden Lagern werden immer stärker teils auf autokratisch-kommunistischer, teils auf demokratisch-kapitalistischer Basis auf nichts anderes eingestellt sein, als auf ihre beiderseitigen Spielzeugsammlungen zur „Weltraumbeherrschung”, freilich auch eingestellt auf die weitaus weniger spielzeughaften wechselseitigen Vernichtungswerkzeuge, durch deren Produktion in immer wieder neuen Varianten und Serien sich die beiderseitigen ökonomischpolitischen Systeme scheinbar allein noch am Leben erhalten können. Solange dieses wechselseitige Hinauflizitieren, das dem Status quo auf beiden Seiten in gleicher Weise dient, nicht durch einen selbstmörderischen Wahnsinnsanfall eines Mannes oder einer Gruppe im Kreml oder im Weißen Haus durchbrochen wird, kann dies alles noch recht lange dauern. Dabei kann man sich kaum völlig der Genugtuung entziehen, daß eine solche exklusive und exzessive Hingabe der beiden Großen an dieses „amerikanischrussische Duell”, das sie stillschweigend als ein niemals enden Sollendes vereinbart haben, für die Kleinen nicht ganz ohne historische Vorteile sein könnte, falls diese nur wissen, was sie in der gegebenen Situation wirklich wollen können.

Eine kühle Analyse der jüngeren russischen Entwicklung bestätigt das Gesagte, ln der weltweiten Perspektive der technischen Oekonomie ‘teilt sich, was man die „Entstalinisierung” nennt, als gigantischer Versuch der Russen dar, die amerikanischen Methoden, wo immer es noch nicht geschah, auf der ganzen Linie zu rezipieren, um dadurch erst den Amerikanismus wirklich zu schlagen. In der Atomtechnik reicht diese Methode gewiß bis in den Stalinismus hinein. Aber auf anderen Gebieten — der Landwirtschaft, der industriellen Dezentralisation, der zugeordneten politischen Auflockerung, ohne die bestimmte amerikanische Produktionsformen nicht funktionieren können — ist diese Methode neueren Datums; Es scheint nun, als habe die russische Rezeption der amerikanischen Technik im Einsatz gegen den Amerikanismus bereits die ersten großen Erfolge errungen. Denn offenbar haben die Russen nicht nur von den berühmten ..deutschen Fachleuten”, sondern noch weitaus mehr von der amerikanischen Industriegesellschaft als solcher gelernt (und dies in den Anfängen gleichfalls schon unter Stalin), um nunmehr befähigt zu sdn, sie zu überflügeln.

Der Wettbewerb in der Atomwaffentechnik wird immer die Möglichkeit des Atomkataklysmus einschließen, wenn irgendeiner der entscheidenden Weltführer den Verstand im eigentlichen Sinne verliert. So schlimm muß der Wettbewerb auf änderen Gebieten nicht werden. Das rechtfertigt freilich keineswegs, von der Atomfriedehsindustrie die wunderbare Lösung aller Probleme zu erwarten, welche die Explosion der ersten Atombomben, das Atomwettrüsten und die Unfähigkeit der Weltmächte, zur Verständigung darüber zu gelangen, geschaffen haben. Denn der jahrzehntelange Wettbewerb auf allen Einzelgebieten der modernen technischen Zivilisation, immer auch im Hinblick auf seine Vorteile für die Atomwaffentechnik, muß innerhalb der ökonomisch-politischen Systeme, die sichihm gänzlich hingeben, auf lange Sicht schlechthin entartend wirken. Hier kann die Selbstzerstörung der ihodernen Zivilisation bei gleichzeitig bewunderungswürdigen formalen Leistungen (wie es Raketen und Satelliten sind) von innen heraus sich vollziehen. Die beiden Fußangeln der technischen Zivilisation unserer Tage, in die verfangen sie sich selbst zerstören muß, auch ohne die Atomweltkatastrophe zu entfesseln, sind der Chemismus in der landwirtschaftlichen Urproduktion, der bereits die Voratomgesellschaft bestimmt, vor allem in seinen schicksalshaften Wirkungen auf Volksernährung und Volksgesundheit, und die Radioaktivität, vor allem in ihren nunmehr wohl erkannten, trotzdem aber vollkommen unkontrollierbaren genetisch-biologischen Nebenwirkungen (wodurch jene beschwichtigende Meinung, die sich auch Hans Thirring in der Atomkonferenz-Nummer der „Presse” vom 5. Oktober zu eigen macht, sich als auf tönernen Füßen stehend erweist). Wenn das Wettrüsten der beiden Weltmächte sich nicht nur auf die Atomwaffen, die Raketen und Satelliten erstreckt, sondern auch, wie ganz unvermeidlich, auf die Friedensverwertung der Radioaktivität selbst schon in ihren Rudimenten, auf die landwirtschaftliche Produktion, auf das daraus folgende Gesundheitswesen, auf die Anwendung von Chemismus und Radioaktivität in Landwirtschaft und Medizin mit allen ihren Wirkungen für den sichtbaren Verfall von Volksernährung und Volksgesundheit — dann ist mit Sicherheit vorauszusagen, daß das wechselseitige Verbeißen der beiden Riesen ineinander in allen Einzelheiten ihrer komplexen technischen Lebensform von noch katastrophalerer Wirkung auf die Gesamtmenschheit sein muß, als es das eigentliche Atom Wettrüsten ist —, solange dieser vorwaltende Trend unseres Zeitalters ohne jede Gegenaktion bleibt.

Ein großer Arzt Amerikas, der außerordentliche Heilerfolge im Bereiche bisher unheilbarer Zivilisationskrankheiten aufzuweisen hat, sagte mir vor kurzem: „Nun ahmen auch die Russen die Methoden der amerikanischen Agrarproduktion nach. Aber ihnen vergönne ich, was sie ernten werden.” Worauf ich antwortete: „Damit ist wieder nur ein neues Stück Erde, wo es bisher trotz des Kommunismus noch viele unverbrauchte Werte im Boden, in den Menschen, im Bauerntum gab, durch die Rezeption der modernen technischen Methoden auf dem Wege, gleichfalls zerstört zu werden.” Die Ausheilung eines Krankheitsherdes, der daran ist, die gesamte Menschheit zu verseuchen, wird damit nur noch schwieriger — freilich auch das mutige Unternehmen einer durch keine pragmatischen Gesichtspunkte getrübten wissenschaftlichen Diagnose und darauf aufgebauten konsequenten Therapie um so notwendiger.

Seither hat sich, was auf der strukturellen Ebene bereits wie ein unlösbares Problem aussah, durch den Ausbruch metaphysischer Hybris noch zugespitzt. Die Dithyramben der Sozialisten (Die Himmelstürmer, „Arbeiter-Zeitung”, 9. Oktober) unterscheiden sich von jenen der Kommunisten (Der Anbruch einer neuen Epoche, „Volksstimme’, 6. Oktober) keineswegs durch Weisheit und Maß, sondern höchstens durch die betonte Unkenntnis der theologisch-dogmatischen Glaubensvoraussetzungen des christlichen Volkes, die der unaufhaltsame Fortschritt des himmelstürmenden menschlichen Geistes angeblich wieder einmal ins Unrecht setzt.

Die Eroberung des Weltraumes ist keine legitime geistige Aufgabe der Erdbewohner. Bis zum Beweise der Unrichtigkeit dieses skeptischen Standpunktes wird man die Erdsatelliten für Spielzeuge der Weltmächte halten müssen, allerdings für nicht ungefährliche Spielzeuge, da im Grunde niemand weiß, was die Disintegration ganzer - Geschwader von Erdsatelliten, welche Amerika und Rußland in altgewohntem anarchischem Wettbewerb ohne internationale Verständigung aussenden werden, für das Leben auf Erden an zusätzlicher Belastung bedeutet.

Gibt es in dieser Weltperspektive noch irgendeine Chance, daß die kleinen Staaten das 21. Jahrhundert erleben? Haben sie noch irgendeine historische Funktion? Sie können eine neue Funktion erwerben, wenn sie die Zeichen der Zeit verstehen. Denn gerade hier liegt die neue historische Aufgabe der kleinen Staaten, der europäischen Staatengemeinschaft, der neutralen Staaten zwischen Ost und West, vor allem auch des kleinen Oesterreich, den Großen ins Angesicht zu widerstehen. Dies ist die Aufgabe, die bereits ins 21. Jahrhundert ihre Schatten vorauswirft; wir können šie gerade noch abstecken, unsere Kinder werden ihr leben müssen, unsere Kindeskinder aber erst sie erfüllen können, soferne wir als ein Volk, das in Generationen denkt, ihr dienen. Wenn die kleinen Völker, vor allem Europas, dasselbe machen wie die großen Völker der Welt, dann werden sie die geistige Brücke bilden, wodurch die sich allmählich amalgamierende amerikanisch-russische Atomzivilisation überhaupt erst möglich wird. Die große Aufgabe der kleinen Völker ist, etwas ganz anderes zu machen, als die großen Völker dieser Welt zwangsläufig machen müssen, und es zum Unterschied aus geistiger Erkenntnis und sittlichem Entschluß zu machen, nicht getrieben von den Dämonen der Macht, des Geschäftes und des Luxus. Darüber sollten die geistigen Kräfte Europas, vor allem aber Oesterreichs, in den kommenden Jahren nachdenken. Sie werden Zivilcourage und Nerven für ihre Entscheidungen nötig haben. Aber es können dann Entscheidungen sein, in denen die unsichtbaren Kräfte der Vergangenheit und der Zukunft sie wie auf Händen tragen werden …

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung