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Nassers dirigierter Sozialismus

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Koalitionsprogramm stehenden Reformen sind vor einem Jahre noch als große Sache erschienen, aber in einer finanziellen Situation, die von einem Augenblick zum anderen zum Zusammenbruch führen kann (dies ist die Meinung des Ministers für den Staatsschatz, Emilio Colombo), nehmen sie sich gering und nichtig aus. Reformen haben es an sich, daß sie viel Geld kosten.

Saragat sieht nicht ein, warum es mit der Durchführung der regionalen Ordnung Italiens so eilig sein soll. Die zwanzig neuen Regionalparlamente, die neben den schon bestehenden Provinzverwaltungen entstehen, mit einer neuen bezahlten Bürokratie, würden zwölf Milliarden Schilling jährlich kosten, ohne daß man bisher den Nutzen erkennen kann; die Reformgesellschaften zugunsten der Landwirtschaft werden unendlich teurer sein, das ist das einzige, was man vorläufig von ihnen weiß; der privaten Spekulation das städtische Bauland zu entwinden, indem die Grundstücke in die öffentliche Hand gegeben werden, ist eine schöne Sache, doch muß man sich hüten, den Karren- vor die Ochsen zu spannen. An eine globale Entschädigung ist in der heutigen Finanzlage gar nicht zu denken, aber jeder Versuch, den Boden seinen Eigentümern abzupressen, muß die private Bautätigkeit zum Stillstand bringen.

Schlechte Zeiten für große Reformen

Die gegen die „Strukturreformen“ vorgebrachten Argumente haben Hand und Fuß, in erster Linie das, daß sie im denkbar ungünstigsten Augenblick verwirklicht werden sollen. Doch kann man von den Sozialisten verlangen, daß sie auf alle ihre Bedingungen verzichten, auf jene Bedingungen, unter denen der Parteikongreß allein Nenni die Zustimmung zum Eintritt in die Regierung gegeben hat? Der Konflikt zwischen dem christlichdemokratischen Schatzminister Colombo, der die Reformen nicht mehr will, und dem sozialistischen Budgetminister Giolitti, der die dramatische Situa-ton der Zahlungsbilanz kennt, aber aus Parteigründen auf den Reformen bestehen muß, ist vom Regierungschef Moro entschiedet* wordeö/'-indem-die DC zu Hhrem^WoWHMöP1 zu ihren Verpflichtungen stehen wird.

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Die Lage würde sich natürlich mit einem Schlage ändern, wenn die Währung stabilisiert werden könnte und die Reformen im Einklang mit den verfügbar gewordenen finanziellen Mitteln durchgeführt werden. Dazu wäre aber notwendig, daß auch die Löhne einigermaßen stabil bleiben. Colombo hat errechnet — und Giolitti ist zu keinen anderen Ergebnissen gelangt —, daß das Nationaleinkommen in diesem Jahr um vier Prozent, die Löhne jedoch um 16 Prozent ansteigen werden, mit einer Nachfrage nach Konsumgü-

tern, die, wenn man nicht eine Preissteigerung um weitere sieben Prozent riskieren will, durch die Einfuhr im Wert von mehr als fünf Milliarden Mark gestillt werden muß. Das Defizit der Handelsbilanz würde sich damit auf zwölf Milliarden Mark erhöhen. An eine Stabili-

sierung der Löhne ist jedoch ohne die Mitarbeit der Gewerkschaften gar nicht zu denken. Während die CISL und die UIL, die christlichdemokratischen und sozialdemokratischen Gewerkschaftsbünde, ihre Zusammenarbeit mit der Regierung in Aussicht gestellt haben, ist der

kommunistisch-linkssozialistische Gewerkschaftsbund CGIL absolut unnachgiebig geblieben. „Wir wollen nicht die silberne Scheibe des Mondes im Brunnen“, drückt sich der kommunistische Generalsekretär der CGIL, Agostino Novella, poetisch aus.

Viele soziale Fragen, die in den „reichen“ Industriestaaten längst gelöst sind, verursachen in den „armen“ Entwicklungsländern noch Spannungen. Rasche Industrialisierung scheint ihr einziger Ausweg aus Armut, Not und Hunger zu sein. Wie wirkt sich das auf die Arbeiterschaft aus, deren es dazu bedarf?

Im nasseristischen Ägypten leben die Gewerkschaften ein Schattendasein, und soziale Forderungen werden vom Staat erhoben und vom Staat erfüllt. Streiks sind dort nicht alltäglich. Sie gehören zu jenen von der europäischen Arbeiterbewegung längst erkämpften Rechten, die Gamal Abdel Nasser den ägyptischen Arbeitern vorenthält. Mit gutem Grund!

Ägypten ist der älteste afrikanische Industriestaat, aber auch eines der jüngsten Industrieländer der Erde. Schon bald nach ihrem Machtantritt erkannten die ehrgeizigen Offiziere, daß das Los der jahrtausendelang unterdrückten und verarmten Bevölkerung nur zu bessern sei, wenn man das Existenzminimum der Bauern vergrößern und ihren Menschenüberschuß abschöpfen werden könne. Bodenreform für die Fellachen und Industrialisierung für ihre hungernden Kinder — das war das Rezept. Es erwies sich im Prinzip als richtig. So unzulänglich Industrialisierung, Produktion und Arbeitsleistung auch noch immer scheinen, sie stellen das imponierendste Verdienst des Regimes dar.

Woher Facharbeiter?

Als vor etwa einem Jahrzehnt die ersten , Industrialisierungspläne erwogen wurden, existierte lediglich die von den Engländern aufgebaute Textilindustrie, die immerhin beachtliche Leistungen aufwies. Bedruckte Baumwollstoffe und Garne waren das erste industrielle Ausfuhrprodukt Ägyptens. Qualifizierte Facharbeiter aller Berufssparten aber gab es wenige. Ihr Mangel ist noch immer das größte Problem der Industrialisierung. Heute produziert Ägypten von der Nähnadel bis zur Rakete alles selbst: Textilien, Game, Arzneien, Düngemittel. Papier, Sperrholz und Metalle, Kühlschränke, Fernsehgeräte, Stahl und Düsenjäger. Natürlich bedarf es noch auf unabsehbare Zeit hinaus ausländischer Lizenzen, Mate-

rialien und Hilfskräfte. Was als eigene Leistung ausgegeben wird, ist oft der von fremden Fachkräften beaufsichtigte — schlechtere und teurere — Nachbau ausländischer Produkte mit vorfabrizierten Teilen: Fernsehempfänger aus Deutschland, Kraftfahrzeuge aus Italien, Jagdflugzeuge aus Spanien und Düsentriebwerke aus England. Das liegt daran, daß der inländische Facharbeiterstamm — gemessen an den ehrgeizigen Plänen — zu langsam heranwächst.

Voriges Jahr wurden die Mindestlöhne von 18 auf 25 Piaster (15 Schilling) täglich erhöht, die Arbeitszeit auf sechs Stunden festgelegt. Bei einer Baufirma kann ein guter Facharbeiter leicht 80 Piaster verdienen, das sind rund 1500 Sehilling monatlich. Ein Baggerführer verdient 1,20 Pfund. Die am „Sadd el-Aali“ gezahlten Tagelöhne sind sogar etwa doppelt so hoch. Zu den Normallöhnen kommen Leistungsprämien, Gewinnbeteiligungen der Staatsbetriebe, weitgehend kostenlose Sozialleistungen, wie Mindesturlaub, Ge-

sundheitsdienst und Altersversorgung — Vorzüge, die es vor dem Umsturz nicht gab. Arbeitern gebt es vielfach verhältnismäßig besser als leitenden Angestellten und Staatsbeamten. Was Wunder, daß ägyptische Abiturienten häufig als Praktikanten nach Deutsehland gehen, um nicht als schlechtbezahlte Ingenieure ihr Leben fristen zu müssen, sondern Facharbeiter oder Werkmeister werden zu können.

Die „Säulen“ der Bewegung

Hand in Hand mit der sozialen Emanzipation geht der wachsende politische Einfluß der Arbeiterschaft. Fellachen und Arbeiter sollen, so wünscht Abdel Nasser, die beiden Säulen seines Regimes sein. Sie besitzen nominell die Schlüsselstellung in der neuen Staatepartei, der „Arabischen Sozialistischen Union“. In der neugewählten Nationalversammlung nehmen sie die Hälfte der 350 Sitze ein. Dennoch kann man von einem echten politischen Erwachen der Arbeiterklasse kaum sprechen.

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