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Pferd und Lerche…

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Wie die anderen Satelliten der Sowjetunion ist Polen eine Volksdemokratie, das heißt ein Mittelding zwischen bürgerlicher Demokratie und sozialistischem Staat, sogenannter Rätedemokratie. Anfangs, bis zum Sommer 1948, ging der Streit darüber, ob bei diesem System die westlich- parlamentarischen Bestandteile überwiegen und ob der Kapitalismus seinen Platz neben dem genossenschaftlichen und dem sozialistischen Wirtschaftssektor behaupten solle oder nicht. Seit etwa drei Jahren aber haben die Kommunisten so sehr die Oberhand erlangt, daß die Mengnis von bürgerlicher Demokratie und Sozialismus an die Lerchenpastete aus der elsässischen Anekdote erinnert: der Fabrikant vermischt Pferdefleisch und Lerchenfleisch, jeweils ein Pferd, eine Lerche, also ganz gerecht zu gleichen Teilen. Unnötig zu erklären, wer oder was bei der polnischen Mischung das Pferd und die Lerche darstellen.

Die Warschauer Volksdemokratie ist also heute ein grundsätzlich dem Sowjetregime zustrebendes Staatsgebilde, in deni noch ein paar Überbleibsel an die polnische Republik vor 1939 erinnern. Zu derlei Fossilien zählen bis heute das Fortbestehen mehrerer politischer Parteien, die Staatsoberhauptschaft eines einzigen, die theoretische Gültigkeit der Verfassung von 1921, die Anerkennung des Privatbesitzes an nicht selbst bewirtschaftetem Grundbesitz, dessen Dimensionen nicht die in der Bodenreform festgelegte Grenze von 50 oder 100 Hektar (je nach Gegend) überschreiten, die Möglichkeit, Eigentum an Zinshäusern zu haben, das Vorhandensein privater Kleinindustriebetriebe, des (sehr eingeschränkten) Kleinhandels und des Gewerbes, die Freizügigkeit innerhalb des Landes, der Bestand nichtstaatlicher Verlage, Druckereien und Zeitungen, ja sogar die Erlaubnis, gegen die marxistische Weltanschauung zu polemisieren.

Diese Reminiszenzen an eine verklungene Epoche verschwinden allerdings in der Praxis, und einige dieser Erinnerungen werden durch die neue, am 27. Jänner im Entwurf publizierte Verfassung formell aufgehoben. An die Spitze der Rzeczpos- polita tritt fortan, wie in der UdSSR, ein kollektives Oberhaupt, der Staatsrat: als Eigentum wird nur mehr das auf Erwerb beruhende bewegliche und vom unbeweglichen das ein Mindestmaß nicht überschreitende an selbstbewohnten Häusern und an Kleinlandwirtschaften anerkannt. Die Liquidierung der gesamten Bourgeoisie wird im Text der Konstitution ausdrücklich als Aufgabe des neuen Polen bezeichnet. Freilich bleibt das Mehrparteiensystem aufrecht — derzeit sind noch vier einander an Macht sehr ungleiche Fraktionen zugelassen, die herrschende Arbeiterpartei (PZPR), entstanden aus der Verschmelzung der Kommunisten und des lipken Flügels der Sozialisten, ferner eine Bauernpartei, die gleich der für die Intelligenz bestimmten kleinen Demokratischen Partei ganz im kommunistischen Geiste geleitet wird, endlich die mit drei Abgeordneten im Sejm vertretenen Katholisch-Sozialen, die zwar formell auf dem Boden der kirchlichen Lehre beharren, doch dem Marxismus weitestgehende Konzessionen überall, außer auf rein dogmatischem Gebiet, machen. Wichtiger als die Spärlichen Reste früherer Institutionen, die Fortdauer traditioneller Amtstitel — der Vorsitzende des Reichstags heißt Marschall, das Parlament wird Sejm genannt —, wichtiger als die sehr theoretischen Eigentumsrechte an Häusern oder als die prekäre Bewegungsfreiheit der Kirche und die Publikation einer spärlichen nichtmarxistischen Literatur dünkt uns die Tatsache, daß die Bevölkerungsmehrheit zwar zum Mitmachen bei allen offiziellen Anlässen gezwungen wird, daß sie aber, im Gegensatz zur UdSSR, noch einen Spielraum häuslicher Freiheit hat, innerhalb dessen sie gemäß ihren wirklichen Anschauungen leben, sprechen und denken kann. Nicht unerwähnt darf sein, daß dje Kreise der bürgerlichen Intelligenz und die spärlichen Überreste der vornehmen Gesellschaft bis jetzt in der Lage waren, sich gesellschaftlich von den neuen Herren“ abzusondern und jenseits amtlicher oder geschäftlicher Berührung unter sich zu bleiben, daß ferner Heiraten zwischen Angehörigen der alten Oberschicht und der heutigen Machthaber nur selten Vorkommen. Endlich haben die kirchlichen Feste und Zeremonien ihren einstigen Glanz behalten.

Es gibt aber einen entscheidenden Punkt, der alle scheinbaren Zugeständnisse an die nichtmarxistische Majorität und an die Vergangenheit illusorisch erscheinen läßt. Gehen wir die vorhin genannten Konzessionen durch, so finden wir, daß die nichtkommunistischen Parteien samt und sonders alles billigen müssen, was die regierende Arbeitereinheits- Partei (PZPR) vorschlägt. Niemals erhebt sich im Parlament der leiseste Protest wider eine Regierungsvorlage. Niemals wagt ein Mitglied einer der zugelassenen Koalitionsparteien — der die Bauernschaft repräsentierenden Volkspartei und der als Auffanglager für die Intelligenz und für die Gewerbetreibenden gedachten Demokratischen Partei — oder auch nur einer der drei Abgeordneten der einzigen nicht im Kabinett vertretenen Fraktion, der Katholisch-Sozialen, etwas anderes vorzubringen als eine Variation über das Thema begeisterte Zustimmung“. Wenn Boleslaw Bierut formell Präsident der Republik mit denselben Befugnissen ist, die vor ihm bürgerliche Vorgänger hatten, so wissen wir doch, daß eine neue Verfassung ausgearbeitet wird, in der die Staatsoberhauptschaft in ähnlicher Weise einem mehrgliedrigen Präsidium zugesprochen wird wie in Ungarn, in Rumänien und vor allem in der Sowjetunion. Die theoretische Anerkennung des bescheidenen Großgrundbesitzes sieht in der Praxis so aus, daß seit Jahresfrist sogar gegen die häßlichen Bauern ein heftiger Kampf geführt wird. Faktisch gilt jeder, der rund 20 Hektar überschreitenden Grundbesitz sein eigen nennt, als „Kulak“, der wirtschaftlich zu ruinieren und politisch zu beseitigen ist. Steuerschikanen, administrativer Druck und eine Fülle anderer Pressionsmittel helfen mit, die letzten Gutsbesitzer, die Großbauern und die wohlsituierten Mittelbauern zu liquidieren. Die landwirtschaftlichen Kolchosen vermehren sich mit reißender Schnelle. Gleichermaßen werden die privaten Kleinindustrien und die noch widerstehenden Handelsfirmen abgewürgt.

Wir sprachen von der Freizügigkeit innerhalb Polens, die es dessen Einwohnern, anders als den Sowjetbürgern, erlaubt, nach Belieben umherzureisen. Dem stehen als Beschränkungen gegenüber, daß die Grenzgebiete nur mit besonderer Erlaubnis zu betreten sind und daß Fahrten ins Ausland grundsätzlich verboten bleiben. Nicht einmal in die anderen Volksdemokratien darf der Durchschnittspole reisen. Ein Auslandspaß gilt als vielbeneidete Gunstbezeigung, die nur verläßlichen Parteileuten gewährt wird.

Es gibt noch nichtmarxistische Verlage, Zeitschriften, Zeitungen, fast alle katholischer Färbung. Doch sie werden in jeder Hinsicht drangsaliert. Für sie ist das schlechteste Papier gut genug; sie werden durch die Hauptabnehmer der Druckerzeugnisse, die öffentlichen Bibliotheken und Kulturstätten boykottiert. Sie dürfen nichts veröffentlichen, was irgendwie in die Politik hiheinspielt, und sie sind den konzentrierten Angriffen der amtlich geförderten übermächtigen marxistischen Presse ausgesetzt. Die Polemik gegen den Marxismus aber kann nur auf einer hohen philosophischen oder theologischen Ebene erfolgen, auf die sich nur wenig Auserlesene begeben, denen die dort wehende geistige Luft nicht zu dünn ist.

Sind also die Vermächtnisse der bürgerlich-demokratischen, westlichen Epoche an die polnische Volksdemokratie entwertet oder vernichtet, so blühen und gedeihen um so kräftiger die in ihr von Anbeginn her gehegten sowjetischen Elemente. Zunächst ist, unbeachtet von Westeuropa, die gesamte Verwaltung auf das Rätesystem umgestellt worden. Seit einiger Zeit hat es mit den Wojwöden, den Starosten, den Stadtpräsidenten ein Ende, die aus dem alten Polen ins neue hinüberragten. Nun treffen wir statt eines Berufsbeamten mit Einzelverantwortung auf allen Stufen der Administration Räte mit kollektiver Befugnis, die, ganz wie in der UdSSR, aus theoretisch freien Wahlen stammen. Die Gerichte werden nicht mehr durch Berufsjuristen geleitet, sondern in ihnen dominiert das Laientum. Die Gesetzgebung, auch und vorab auf dem Gebiet des Privatrechts, ist nach sowjetischem Muster umgemodelt worden, wovon zum Beispiel der neue Familienkodex Zeugnis ablegt, überall, auch im Strafrecht, treten das Interesse des herrschenden Proletariats und der Klassenkampf in den Vordergrund.

Rücksicht auf die „Werktätigen“, Gesichtspunkte des Klassenkampfes sind auch im Bereich des Unterrichts und der Erziehung, der Wissenschaft, der Literatur und der Künste entscheidend. Universitäten, höhere, mittlere und niedere Schulen dienen in erster Linie der Heranbildung einer regimetreuen neuen Intelligenz und einer als Basis verwendeten breiten Schicht von Halb- und Viertelgebildeten. Die Forschung soll ebenso den „sozialistischen Aufbau“ fördern, wie das Aufgabe der Dichtung, der Malerei, der Bildnerei, der Musik ist, die alle streng nach den Regeln des sozialistischen Realismus zu schaffen haben.

Das einst so vielscheckige Polen ist einheitlich uniformiert worden. Die Gerechtigkeit gebietet uns aber zu sagen, daß um diesen schmerzlichen und kostspieligen Preis Gewaltiges an technischen Leistungen, beim Wiederaufbau eines unvorstellbar verwüsteten Landes, auf dem Gebiet der Hygiene und der primitivsten Volksbildung vollbracht worden ist. Ganze Industriezweige sind erstanden, riesenhafte Siedlungen, wie die Nowa Huta bei Krakau, schießen aus dem Boden, die zerstörten Ostseehäfen sind wieder in voller Tätigkeit. Warschau erhebt sich aus seinen Trümmern, schöner denn je zuvor. Nicht ohne Wehmut blickt man auf die gutartigen, schlechtgekleideten, schlechtgenährten und übel von allem Weltgeschehen unterrichteten Massen, die an Festtagen durch die neuen breiten Straßen der Hauptstadt fluten.

Welch einen furchtbaren Preis hat dieses zutiefst europäisch, christlich gebliebene, nach Westen blickende Volk für einen materiellen Fortschritt auf einigen Sektoren bezahlt, den nicht zuvor verwirklicht zu haben, den vordem Herrschenden als schwerste Sünde anzukreiden ist!

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