6712981-1964_30_01.jpg
Digital In Arbeit

Von den Insekten lernen

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist erstaunlich, wie wenig die fundamentalsten Dinge bei uns als gegeben und allen gemeinsam angenommen werden können und wie sehr man sie immer wieder aufs neue diskutieren muß. Ob die österreichische Nation eine Nation ist, steht für manche unserer Landsleute immer noch ebenso in Frage wie, ob Österreich eine Landesverteidigung haben soll. Seltsamerweise sind es nicht dieselben Leute, denen beides fraglich erscheint. Während ein guter Teil der Linken heute erfreulicherweise Österreich als geschlossene Nation empfindet, betrachten manche von ihnen deren militärische Verteidigung durchaus nicht als selbstverständlich. Ein Teil davon, repräsentiert durch Universitätsprofessor Thirring, steht ihr überhaupt pazifistisch-illusionär und ablehnend gegenüber; ein größerer Teil ist eher relativistisch, das heißt, er macht seine Bejahung der Landesverteidigung oder des Heeres von politischen und personellen Voraussetzungen abhängig. Bei den Kommunisten ist es sogar so, daß sie einerseits das Vorhandensein einer österreichischen Nation sehr betont bejahen und anderseits alles tun, um deren militärische Verteidigung zu unterhöhlen. Sie schieben hierfür gern den pazifistischen Flügel der Sozialisten vor. Umgekehrt ist die deutschnationale Rechte durchaus für die Verteidigung von „Scholle und Volk“, deren Grenzen für sie allerdings nicht die österreichischen sind. Die Volkspartei ist im allgemeinen pro Landesverteidigung; „kein Wunder“, sagen Sozialisten, „sie hat ja den Landesverteidigungsminister“. Man hat allerdings zuweilen den Eindruck, daß sich außer dem jeweiligen Inhaber des Ressorts niemand in der Volkspartei mit der Landesverteidigung befaßt.

Für die ganze Situation ist symptomatisch, daß im jüngsten Regierungsbericht über den Stand der umfassenden Verteidigung unseres Landes als wichtigste Grundlage unserer Verteidigungspolitik angegeben werden:

Erstens: Der Schutz der Grenzen der Republik. Diese aus der alten Bundesverfassung stammende Formulierung ist durch die Entwicklung Im Kriegswesen längst überholt worden. Seitdem es Luftlandetruppen, Fallschirmspringer und vor allem „Fünfte Kolonnen“ gibt, ist die Integrität eines Landes nicht mehr identisch mit der IntMrität seiner geographischen Grenzen. Wenn jene Formulierung aber nur symbolisch gemeint ist, dann wissen wir uns geeignetere Symbole für das, was wir geschützt haben wollen.

Als zweiter, jedoch im Bericht viel öfter und breiter exponierter Teil der Grundlagen unserer Verteidigungspolitik wird die Verteidigung der Neutralität genannt. Und das heißt nun die Begriffe etwas zu verwirren. Denn die Neutralität ist nicht Ziel und Zweck unserer Verteidigung, sondern nur eines ihrer Mittel, und zwar das außenpolitische, das uns zusammen mit den anderen helfen soll, die wirklich wesentlichen Dinge zu verteidigen: unser Land, unsere demokratischen Einrichtungen, unsere Lebensweise, unsere Freiheit, unsere Kultur. Daß es zu jener „Entfremdung“ von einer an sich wichtigen Regelung unserer außenpolitischen Stellung zum Um und Auf unserer Verteidigung gekommen ist; mag seine historischen Gründe gehabt haben, die aber heute nicht mehr so wesentlich sein dürfen, daß wir unseren jungen Leuten und unserem Volk nicht die essentiellen Dinge nennen könnten, derentwegen sie den Militärdienst, materielle und nötigenfalls auch das höchste Opfer auf sich nehmen sollen.

Ein weiterer und viel mehr als terminologischer Lapsus, der uns schon vor der Veröffentlichung des Berichtes bekannt war, besteht darin, daß die höchste Führungsspitze unserer Landesverteidigung — man entschuldige den Ausdruck — verbogen ist. Die Führung unserer gesamten Verteidigung, das heißt die Koordinierung und Inspizierung aller ihrer Zweige, von denen der militärische nur einer neben der wirtschaftlichen, inneren-zivilen sowie der geistigen Landesverteidigung ist, liegt in den Händen des Vertreters der militärischen Ressorts und nicht, wie in allen anderen Ländern, bei der Regierungsspitze — das hieße hierzulande beim Bundeskanzler und, wenn man den besonderen Verhältnissen bei uns Rechnung tragen will, auch beim Vizekanzler. Schon Napoleon und Bismarck haben gesagt, daß der Krieg eine zu wichtige Sache ist, um den Militärs überlassen zu werden. Heute jedoch, da jedem Krieg nicht nur ideologische Methoden sondern auch ideologische Ziele zu eigen sind, kann auf eine politische, das heißt alle Zweige des Lebens im Staat umfassende — Führung der Landesverteidigung überhaupt nicht mehr verzichtet werden.

All das sind Symptome einer gewissen Ungeklärtheit der Dinge und — wie insbesondere am Anfang dieser Ausführungen gezeigt wurde — auch der Grundfragen der Landesverteidigung, des Ob und Wofür. Zum Ob:

Unser Land ist insgesamt von Ländern umgeben, die ausnahmslos große, auf langem allgemeinem Wehrdienst beruhende, schwerstausgerüstete Armeen besitzen. Zu fragen, ob einer dieser also ausgerüsteten Staaten uns je angreifen werde, ist irrelevant: Weder sie noch wir können das im vorhinein wissen. Mit Ausnahme der Schweiz hat jedes dieser Länder ein- oder mehreremal in der Vergangenheit andere Länder angegriffen — vier von ihnen auch unser Land. Keines hat bisher weder durch die Tat noch in Worten bewiesen, daß es in alle Zukunft und unter all®MJm- ütänden auf einen Angriff gegen uns verzichten werde. Zudem hat überhaupt noch kein Land auf der Welt irgendeine Versicherung abgegeben, unsere Neutralität zu respektieren oder zu garantieren. Das muß nicht so bleiben, und es ist eine der Bemühungen unserer Außenpolitik, daß es anders werde. Bis dahin jedoch besteht unzweifelhaft die Notwendigkeit, unser Land optimal verteidigungsfähig zu erhalten. Ist das heutzutage möglich?

Die Welt kennt heute zweierlei Arten von Militärmächten: solche, die über Atomwaffen verfügen und andere, die nur konventionelle Kampfmittel besitzen. Da die zwei hauptsächlichen Atommächte erkannt haben, daß die Verwendung der Atomwaffen das Ende der Welt bedeuten würde, haben sie sich mehr oder Weniger und provisorisch darauf geeinigt, keine Atomwaffen zu verwenden. Sie haben aber nicht darauf verzichtet, ihren großen Kampf um die Welt weiterzuführen. Es geschieht das jetzt nur noch in kleineren Teilgefechten, und sofern überhaupt militärisch, durch kleinere „Stellvertreter“-Staaten mit konventionellen Waffen. Wir sind also faktisch dort, wo wir vor Hiroshima, ja vielleicht sogar vor 1914 gewesen sind: die Großmächte hüten sich heute, ein kleineres, dem anderen Block zugehöriges Land selber zu überfallen, weil das sofort vom gesamten anderen Block beantwortet werden würde. Weniger einfach ist das bei einem Angriff auf ein blockloses oder neutrales Land. Hier hängt sehr viel von den allgemeinen Umständen, einiges jedoch auch davon ab, wie sehr das angegriffene Land durch seinen Widerstand zeigt, daß es nicht von dem betreffenden Block verschluckt werden will.

Die neue Entwicklung, die Differenzierung im kommunistischen Lager haben diese Lage für ein Land wie das unsrige eher kompliziert als erleichtert. Wir mögen zwar mit einzelnen kommunistischen Ländern leichter zu gewissen Abmachungen und Einigungen gelangen. Anderseits müssen wir jedoch auch der Möglichkeit ins Auge sehen, daß die kleineren kommunistischen Länder bei einer weitaus intensiveren Ver folgung dessen, was sie- als ihre Eigeninteressen ansehen, unter gewissen Umständen auch zu selbständigen Angriffshahdlungfen gelangen können.

Aus all diesen wie aus manchen anderen hier bei erster Sicht noch nicht angeführten Erwägungen ergibt sich einerseits die Notwendigkeit und anderseits die objektive Möglichkeit für eine wirksame österreichische Landesverteidigung. Dem entspringen auch die Hinweise auf den Charakter unserer Verteidigung. Wir sind imstande, unser Land gegen den Angriff von seiten einer dritt- oder viertrangigen Militärmacht (und kaum eine andere kommt in Betracht) wirksam zu verteidigen, wenn wir imstande sind, hierfür alle unsere menschlichen, politischen und materiellen Ressourcen im Notfall zu mobilisieren. Das heißt, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung daran beteiligt ist. Das klingt unangenehm nach der totalen Mobilisierung der Jahre 1939 bis 1945. Zum Unterschied von damals haben wir jedoch diesmal „nur“ uns selbst und was wir heute sind, denken, wollen, tun und leben, zu verteidigen.

Aus all dem ergibt sich auch einiges in bezug auf den Charakter und die Formen unserer militärischen Landesverteidigung. Wir können kein Heer brauchen, in dessen Dienst sich unsere jungen Leute ungern begeben, und in dem sie sich von ihrem sonstigen Leben isoliert fühlen. Und zwar aus rein militärischen Gründen. Denn wir brauchen ein Heer, dessen Menschen eng mit ihrer sonstigen vertrauten Umgebung verbunden bleiben, in der sie im Kriegsfälle am besten und wirksamsten kämpfen können. Das heißt, unser Heer muß in seiner weitesten Anlage eine Landwehr, ein Volksheer sein, in dem alle positiven Impulse des Volkes sich auswirken können und wo das in einem Verteidigungskrieg so wichtige Moment der Improvisation und der spontanen Ausnützung lokaler Gegebenheiten voll angewendet und ausgenützt werden kann. Freilich brauchen wir in dieser Zeit der hoch- entwickelten Kriegstechnik außer einer politisch wachen und militärisch versierten zentralen Führung einen entsprechend ebenso hoch- qualifizierten Kern von Mannschaftsoffizieren, Technikern und Chargen.

Eine Klärung des Charakters unserer militärischen Verteidigung lm oben angedeuteten Sinne dürfte und müßte jedoch eine Änderung der derzeitigen Konzeptionen über die Ausrüstung mit sich bringen. So dürfte in einer solchen Konzeption der Akzent, der jetzt (auch im Regierungsbericht) auf die Bedeutung der Panzerwaffe gelegt wird, als überbetont angesehen werden. Wir glauben, daß unseren Möglichkeiten und dem Charakter unserer Landschaft entsprechend, unsere Verteidigung nicht in großen Schlachten, und somit auch nicht in großen Einheiten, sondern in einer Unzahl kleiner und kleinster Handlungen und ebensolcher Gruppen liegen muß; deren Auswirkung soll mit der einer großen Zahl von Insekten verglichen werden: das einzelne ist nur schmerzhaft, ihre Gesamtheit aber tödlich. Freilich sollen solche kleineren Gruppen auch, wenn nötig, sehr schnell zu größeren Verbänden zusammengezogen, jedoch ebenso schnell wieder zerstreut werden können. All dies verlangt ein hoch- entwickeltes Verständigungswesen und höchste Mobilität, sicherlich aber kaum viel schwere Ausrüstung. In bezug auf Mobilität fällt in dem Regierungsbericht auf, daß dort weder ein Hinweis noch die Forderung nach legistischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Requirierung privater Verkehrsund Transportmittel im Ernstfall erhoben wird. Ein Land, wie das unsrige kann und soll sich keine vollständige ärarische Motorisierung leisten. Wenn schon die k. u. k. Armee Pferde und Leiterwagen requirierte, dann besitzen wir bei dem Stand unserer zivilen Motorisierung heute mindestens ebensoviel Berechtigung dies mit privaten Autos und Lastautos zu tun.

Wenn wir von solchen wie den angedeuteten strategischen Voraussetzungen und taktischen Mitteln ausgehen, dann wird wahrscheinlich auch die Diskussion um die Landesverteidigung und die ihr einzuräumenden Mittel, Kader und Ausbildungszeiten auf andere Weise als bisher geführt werden und dann wird sich auch unser Heer eines höheren Ansehens und stärkerer Anziehungskraft beim Volke erfreuen. Wir brauchen eine Landesverteidigung, die in jeder Beziehung dieser Zeit und diesem Lande entspringt und entspricht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung