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Zwischen Schein und Wirklichkeit

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Auf der goldenen Spitze des ehemals kaiserlichen Kremlpalastes, die einstmals nur der Kaiserstandarte vorbehalten blieb, weht die rote Staatsflagge. Der Palast ist ein großer imposanter Bau, er ragt hoch über die Kremlmauern hinaus. Er ist nur etwas über 100 Jahre alt, dieser Palast, erbaut unter dem Kaiser Nikolaus I. Eigentlich passen seine quadratischen, massigen Konturen gar nicht in diesen alten Kreml mit seinen Zwiebeltürmen, seinen bizarren, verschlungenen Linien. Dieses zu Stein gewordene Symbol des weitausholenden russischen Imperialismus soll jetzt die sichtbare und prächtige Spitze der sowjetischen Staatspyramide abgeben. Denn dieser Palast ist der Sitz des höchsten Organs des Sowjetreiches: des Obersten Sowjets der Union.

Im Grunde genommen ist dieser große Apparat in dem prunkvollen Palast, der auf sehr komplizierte Weise aufgestellt wird, nichts wie eine prachtvolle Attrappe. Denn alles beschließt ja die Partei oder richtiger gesagt, die Parteileitung. Der Oberste Sowjet, das offizielle Parlament, verkündet nur die Parteibeschlüsse als Staatsgesetze. '

Die prachtvollen Säle des Schlosses sind nach den Orden des russischen Reiches benannt und auch entsprechend geschmückt.

Nur zwei Säle, die der beiden höchsten Orden, des Andreas- und des Alexander-Ordens, hat man umgebaut. Schneeweißer Marmor sind die Wände. Unten wurden die Bänke für die Abgeordneten eingebaut. Auf einer Galerie sitzt das zugelassene Publikum und die Presse. Wie ein Schwalbennest hängt an der Wand die Diplomatenloge.

An der Stirnwand, in einer Nische, steht überlebensgroß der redende Lenin. Davor ein pompöser Aufbau aus Holz mit dem Platz für den Präsidenten, dem Katheder für die Redner und die Bänke für die Regierung. Ganz so, wie in jedem Parlament.

In den beiden weißleuchtenden Sälen tagen die beiden Kammern des Obersten Sowjets: Der Sowjet der Union und der Sowjet der Nationalitäten. Beide werden von den Sowjetbürgern in direkter geheimer und allgemeiner Wahl gewählt. In den Sowjet der Union wählen je 300.000 Einwohner eines Wahlbezirkes einen Abgeordneten.

Viel komplizierter ist die Wahl in den Sowjet der Nationalitäten. Die vielen Völkerschaften der Sowjetunion sind in eine strenge Rangordnung eingestuft. Die größten Völkerschaften bilden die 16 Unionsrepubliken. Jede dieser 16 Republiken wählt je 25 Abgeordnete in den Sowjet der Nationalitäten. Die kleinen Völkerschaften bilden „autonome Republiken“ innerhalb dieser 16 Unionsrepubliken. Die autonomen Republiken entsenden je elf Abgeordnete. Die nächste Stufe ist das „autonome Gebiet“, das ein Anrecht auf fünf Abgeordnete hat, und zum Schluß der „national-autonome Bezirk , mit nur einem Abgeordneten. Der Sowjet der Nationalitäten hat etwas über 500 Abgeordnete. Beide Kammern des Obersten Sowjets tagen getrennt. Die Gesetze müssen, wieder auf dem Papier, von beiden Kammern angenommen werden. Zur Entgegennahme von Regierungserklärungen, zur Wahl der Regierung oder des kollektiven Staatsoberhauptes vereinigen sich beide Kammern zu gemeinsamer Sitzung.

Das Staatsoberhaupt heißt: Präsidium des Obersten Sowjets. Es besteht aus einem Präsi denten, gegenwärtig der Marschall Klim Woro schilow, 16 Vizepräsidenten und 15 weiteren Mitgliedern. Unter diesen 15 Mitgliedern befindet sich gegenwärtig auch der Erste Parteisekretär, Nikita Chruschtschew. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß als die 16 Vizepräsidenten die 16 Staatspräsidenten der Bundes-Sowjetrepubliken gewählt werden. Dieses kollektive Staatsoberhaupt hat auf dem Papier große Rechte. Zwischen den Tagungen des Obersten Sowjets, die jedes halbe Jahr stattfinden, erläßt es Gesetze, ernennt die Regierungsmitglieder, erklärt Kriege und schließt Frieden, ratifiziert die Verträge mit ausländischen Mächten. Alles das muß allerdings nachträglich vom Obersten Sowjet bestätigt werden. Völlig selbständig ernennt das Präsidium die Offiziere der bewaffneten Macht und die Sowjetdiplomaten im Auslande, verleiht Titel und Orden und übt das Begnadigungsrecht aus. Das wird alles kollektiv beschlossen, der Präsident selbst hat keinerlei besondere Rechte. Die Beglaubigungsschreiben der ausländischen Diplomaten sind an das Präsidium des Obersten Rates gerichtet. Der Präsident nimmt sie im Namen des Gesamtkollegiums in Empfang. Er ist eine rein repräsentative Figur, wobei übrigens jederzeit und in jedem Fall auch einer der Vizepräsidenten seine Funktionen erfüllen kann.

Die demokratische Fassade des Sowjetstaates scheint also sehr gut ausgebaut. Doch dieser Eindruck, den der sowjetische Parlamentarismus auf den Beobachter macht, verschwindet sofort, wenn man nach den Parteiverhältnissen in diesem Parlament fragt. Es stellt sich nämlich dann heraus, daß in diesem Parlament nur eine einzige Partei vertreten ist, die mehr als zwei Drittel der Sitze innehat. Die restlichen Abgeordneten gehören offiziell keiner Partei an, doch sorgt das Wahlgesetz, daß nur dem Regime treu ergebene Personen gewählt werden. Nach der Verfassung dürfen die kommunistische Partei sowie die verschiedenen Organisationen der Staatsbürger, wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Assoziationen, verschiedene Vereine, darunter auch die Sportvereine, Kandidaten für die Wahlen in die Sowjets aufstellen. Doch der 124 der Verfassung legt nicht nur das politische und Parteimonopol der kommunistischen Partei fest, sondern befiehlt auch, daß alle Organisationen der Werktätigen ohne Ausnahme einen kommunistischen „leitenden Kern“ haben müssen. Ganz gleich also, welche Organisation auch Kandidaten aufstellt, es können nur solche sein, welche vorher von den zuständigen Parteiorganen ausgesucht wurden. Schon diese Parteiinstanzen prüfen ganz genau, bevor sie einen Kandidaten nennen. Doch schließlich gibt es noch eine Wahlbehörde, welche die Vorgeschlagenen prüft und sie bestätigt. Diese Wahlbehörde setzt dann die Einheitsliste auf. Selbstverständlich sind die Mehrheit der Kandidaten Parteimitglieder. Die Minderheit gehört der Partei nicht an. Es wird versucht, solche zu ernennen, die zwar dem Regime absolut ergeben sind und dabei besonders populär oder bei der Bevölkerung sehr angesehen sind. Der Wähler hat dann diese Einheitsliste des „Blocks der Kommunisten und Parteilosen“ zu wählen oder zu verwerfen. Eine geschickte Regie sorgt dafür, daß Wahlbeteiligung und Zustimmung hundertprozentig sind. Von der eben abgeschlossenen Session erwartete man allgemein, daß sie besonders interessant sein wird, da es ja die erste nach dem sensationellen 20. Parteikongreß war. Doch nichts von wirklich besonderer Bedeutung wurde verhandelt.

Daß bei den nächsten Wahlen in den Obersten Sowjet ein neuer Wahlmodus angewendet werden wird, ist bekannt. Dazu braucht man jedoch das Wahlgesetz nicht zu verändern. Eine Instruktion an die Parteiihstanzen und Wahlbehörden, eine neue Auslegung des bisherigen Gesetzes genügt. In Zukunft sollen die Wähler nicht einer einzigen Einheitsliste ihre Bestätigung geben, sondern in jedem Wahlbezirk zwischen mehreren Kandidaten, welche die einzelnen Organisationen aufstellen, wählen können. Politisch an der Diktatur einer einzigen Partei ändert das nichts. Man wird einfach zwischen zwei oder drei rechtgläubigen Kommunisten zu wählen haben. Gewählt wird dann schließlich der populärste, das kann der regierenden Partei nur recht sein. Auch dürfen die Religionsgemeinschaften, die einzigen Organisationen, die keinen „kommunistischen leitenden Kern“ haben, keine Kandidaten aufstellen. Doch es ist durchaus möglich, daß im bunten Gewimmel der Nationaltrachten des Obersten Sowjets einmal ein paar schwarze Soutanen der russischen und ein paar weiße oder grüne Turbane der mohammedanischen Geistlichkeit auftauchen. Politisch wird das nichts ändern, doch die Fassade wird farbiger und irreführender sein. Auf jeden Fall ist jetzt schon gesagt worden, daß unter keinen Umständen mehrere Parteien erlaubt sein werden. „Das Sowjetvolk braucht das nicht“, heißt es lakonisch.

Wenn das Experiment mit den mehreren Listen ein und derselben Partei gelingt, dann kann das trotzdem zu einer Stärkung des Regimes der Erben Stalins führen. Für die breiten russischen Massen ist der neue Wahlmodus natürlich etwas, das ihnen die Illusion vermittelt, an der politischen Willensbildung mehr teilzunehmen. Die Konkurrenz der einzelnen Kandidaten zwingt die lokalen Parteiorganisationen, sich mehr um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern und zweifellos ist das eigentliche Ziel der bevorstehenden Wahlreform eine Verbesserung der Verwaltung. Auf der letzten Session des Obersten Sowjets wurde davon nur in den Couloiren gesprochen. Sonst war diese Session beinahe nur der Propaganda nach außen gewidmet. Alles drehte sich um das Verbot von Atom- und Wasserstoffbombenversuchen, vom Verbot der Atomwaffen überhaupt und von der Abrüstung. Alles zum Fenster hinaus.

Von Interesse war nur das Gesuch der Finno-Karelischen Sowjetrepublik, als einer der sechzehn souveränen „Sowjetrepubliken“ auszuscheiden und um die Erlaubnis, wieder in den Verband der russischen föderativen Sowjetrepublik einzutreten. Ein Staat gibt also seine Souveränität auf! Die Veränderungen, die durch eine solche neue staatsrechtliche Stellung eintreten, sind folgende: die Finno-Karelische Republik entsendet zwar dieselbe Anzahl von Abgeordneten in den Sowjet der Union, jedoch bloß 11 statt 25 in den Sowjet der Nationalitäten. Das Präsidium des Obersten Rates wird bloß 15 statt 16 Vizepräsidenten haben. Sonst ändert sich praktisch buchstäblich nichts! Es ist daher nicht recht verständlich, warum diese Veränderung vorgenommen wird. Es hält sich beharrlich das Gerücht, daß die Sowjetunion die 1940 von Finnland eroberte Karelische Landenge mit der Stadt Wiborg an Finnland zurückgeben will. Die „Iswestija“ hat aller dings behauptet, die finnisch-sowjetische Grenz sei endgültig. Doch ist folgendes zu beachten. Jede der 16 Sowjetrepubliken, die nach der Verfassung die Sowjetunion bilden, besitzt offiziell ihre uneingeschränkte Souveränität. Auf dem Papier kann eine solche Republik jederzeit ohne Kündigungsfrist aus der Sowjetunion austreten. Die Grenzen einer solchen Republik dürfen ohne ihre Zustimmung nicht verändert werden. Eine „autonome“ Sowjetrepublik dagegen i6t nicht souverän. Ihre Grenzen können jederzeit durch den Obersten Sowjet der Sowjetunion oder den der Bundesrepublik, der sie angehört, verändert werden. Ja, eine solche Republik kann sogar durch die souveränen Gewalten ganz aufgelöst werden. Das ist ja auch in jüngster Zeit mit drei autonomen Republiken geschehen: Der Republik der Wolga-Deutschen, der Republik der Krim-Tataren und der Republik der Tsche-tschenzen. Das merkwürdige ist nun, daß der Oberste Sowjet der finno-karelischen Republik nicht nur gestattet hat, wieder ein Teil des engeren Rußland, ohne eigene Souveränität zu werden, sondern er hat auch den Namen dieser

Sowjetrepublik verändert. Sie heißt in Zukunft einfach wieder Autonome Karelische Sowjetrepublik. Es ist also der Rechtszustand und der Name wiederhergestellt worden, wie er vor dem Winterkrieg 1939/40 gegen Finnland bestand. Obwohl die administrativen Grenzen der nunmehr degradierten Republik formal erst durch den Obersten Sowjet der Unionsrepublik Rußland bestimmt werden muß, scheint es doch so zu sein, daß die ehemals finnischen Gebiete nicht mehr zu diesen autonomen Republiken gehören werden. Denn dieses Gebiet war es ja, das der Republik den zweiten Namen „finnisch“ gab. Was geschieht jetzt also mit dem Gebiet von Wiborg? Das ist die Frage, die man sich in Finnland und in Skandinavien stellt.

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