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„Neu" oder „modern"?

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Es wäre zu überlegen, ob man zwischen neuer und moderner Musik nicht einen Unterschied machen sollte. Das braucht durchaus keine Haarspalterei zu sein. Im Gegenteil!

Der Begriff „moderne Musik“ hat vielleicht zwei hervorstechende Inhalte: einmal den des eintagsfliegenmäßigen, des in der greifbaren Gegenwart sich engenden, mit dem Hautgout des „Modischen“ behafteten, und dann den einer forcierten Aktualität, die das doch wohl historisch gewordene

Faktum des Stilumbruchs in tausend Variationen — gerade sind wir beim Pointillismus als Dernier cri angelangt — verewigen möchte. Hinkt bei dem genannten Sonderfall die Musik nicht fast ein halbes Jahrhundert hinter der Malerei her? Also offenkundig ein Anachronismus!

Demgegenüber vermeint man nicht zu Unrecht bei der Wortprägung „neue Musik“ statt der revolutionären Geste von gestern eindeutig das Moment einer sich Zeit nehmenden Evolution zu verspüren, eine mancher Gegensätzlichkeit zur spätromah- tischen Vergangenheit organische Bindung an Wahlverwandtes von ehedem, das heute mit zeitgemäßem Inhalt in abgewandelten früheren Formen wieder lebendig wird. Diese Besinnung auf vergangene Stilepochen — je früher, je lieber scheint es oft! — geben dem Neuen schon eher konservative Züge. Hier schaltet sich sinngemäß die neue Kirchenmusik ein, für die der Begriff „modern“ fehl am Platze ist.

Vergegenwärtigen wir uns als bedeutsames Symptom der „Moderne“ die sprachlich schon eindeutig fixierte Bezeichnung des künstlerischen Gestaltens als „konstruktiv“, wie sie mit einer mathematisierten klanglichen Neuordnung am eklatantesten in der Zwölftontechnik zutage tritt. Vielleicht ist für das Modische dieser Erscheinung nicl\ts charakteristischer als gerade diese spekulative Kompositionsweise, die — horribile dictu — für das 20. Jahrhundert das Gegenstück darzustellen scheint zur Programmusik des

19. Jahrhunderts: der Gegenschlag des Pendels von der außermusikalisch-poetisierenden Musik zur rationell überkompensierten, stilistisch abstrakten Klanggestaltung, die letztlich in der Elektronenmusik ein spezifisch zeitbedingtes Gepräge erfährt. Diese konsequente Entwicklung der absoluten Musik als m u s i c a d e s t i 11 a t a ist zweifellos nur. auf dem Gebiete der Instrumentalmusik möglich. Am Ende emanzipiert sich „das Instrumentale an sich“ als ein kunstgewerblicher Sonderfall automatischer Technisierung.

Da kanji die Vokalmusik zweifellos nicht mit. Dafür ist sie zu naturgebunden, zu menschlich, zu geistig, als daß sie, und damit auch die Kirchenmusik, im angedeuteten Sinn „modern“ sein könnte. Die m u s i c a sacra bleibt, was sie von Haus aus und ihrem Geiste nach ist, primär Vokalmusik. Hier offenbart sich ihre reinste und tiefste Quelle. Das ewig sich erneuernde vokale Element wirkt im Falle einer zu starken Bindung ans Instrumentale als Gesundbrunnen. Somit wird ihr Sosein als Ausdruck des Gesanglich- Seelischen die fundamentale Voraussetzung selbst für das jüngste kirchenmusikalische Schaffen bleiben. Daher auch die Vorrangstellung des Gregorianischen Chorals und des Palestrinastils durch die kirchliche Gesetzgebung. Hier decken sich also unsere Reflektionen über die neuzeitliche Musik in ihren zukunftweisenden Tendenzen mit den Grundsätzen einer geheiligten Tradition.

Unsere These, daß in der dem Umbruch revolutionär entwachsenen „neuen“ Musik konservative Werte vorherrschend sind, wird in praxi indirekt dadurch noch erhärtet, daß durchweg alles kirchenmusikalisch Neue, mit „modernen“ Qhren gehört, mehr oder minder wie gestrig klingt. Man leugnet in dieser radikalen Beurteilung nicht die Begegnung der geistlichen Musik mit der weltlichen, empfindet aber das Distanzieren der reinen Kirchenmusik von allem Experimentieren, das bewußte Weglassen alles Outrierten, die Abkühlung von allem Exaltierten als künstlerisch reaktionär. Umgekehrt wird der Kirchenmusiker bei den Vertretern der mit solch einseitigen Maßstäben messenden Stilkritik jegliches Gespür für das Liturgische und jenes künstlerische Sensorium für ein sakrales Pneuma vermissen. Selbst die rechte Einsicht in die Idee der Kirchenmusik als künstlerisches Brauchtum wird vielfach verkannt. Die pädagogische Absicht, bescheidenen Chorverhältnissen durch Erleichterung des Satztechnischen manches Neue näherzubringen, verstimmt die Unentwegten.

Die Diskrepanz zwischen „neu“ und „modern“ ist mittlerweile immer deutlicher geworden. Vielleicht hilft eine Werteskala in der Steigerung von „geistreich“ über „geistvoll“ zu „geistlich“ die Begriffe klären. Das Geistreiche läßt sich gar nicht, das Geistvolle nur bedingt, lediglich als dekoratives Akzidenz, selbst dem Gesamtbereich des Religiösen näherbringen. Da Epitheton geistreich eignet speziell der Moderne, die als „interessant“ empfunden wird, was im Hinblick auf die geistliche Musik fast blasphemisch wirken könnte. Das Geistvolle umwittert das Fluidum echter Innerlichkeit, die sich mit der Sphäre religiöser Erhebung berührt, indes die Region des Geistlichen letzten Endes dem Liturgischen vorbehalten bleibt.

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