6609356-1954_41_10.jpg
Digital In Arbeit

Sakrale Musik in Frankreich

Werbung
Werbung
Werbung

Was Ursprung und Aufbau des gregorianischen Gesanges anbelangt, können Byzanz, Rom oder Mailand wohl historische Ansprüche erheben. Will man aber von sakraler Polyphonic sprechen, so. steht nach dem gegenwärtigen Stand der musikwissenschaftlichen Forschung fest, daß Frankreich, und — genauer gesagt — Paris, mit der Schule von NotreDame im 12. Jahrhundert die Wiege der ganzen abendländischen Polyphonic gewesen ist, so daß irgendeine, auch noch so flüchtige Darstellung der sakralen polyphonen Musik auf die Pariser Kathedrale wie auf eine geistige Mutter zurückblicken muß. Der Ablauf der Jahrhunderte, schwerwiegende kulturpolitische und religiöse Ereignisse, Blütezeiten oder Epochen des Tiefstandes im Glaubensleben haben seit Leoninus und Perotinus’ bahnbrechendem Schaffen die Entwicklung, welche die sakrale Musik in Frankreich genommen hat, maßgebend beeinflußt. Ihrem zweiten goldenen Zeitalter, der Aera der Hofkapellmeister von Versailles, im 17. Jahrhundert, ist bekanntlich die Epoche der religiös-gefärbten, Opernhaften Musik des 19. Jahrhunderts gefolgt: Berlioz’ „religiöse" Werke können heute schwer mit den Psalmen, Oratorien oder kirchlichen Motetten von M. A. Charpentier und M. R. de La Lande verglichen werden, die trotz ihrer prunkhaften, fast weltlichen Größe die glanzvolle Souveränität des Glaubens bekundeten.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt eine neue Renaissance der sakralen Musik zutage, da die Benediktinerabtei von S o 1 e s m e s, von Dom Gueranger gegründet, ihre Pforten öffnet und die Gregorianik wiederentdeckt, sie reformiert und verbreitet. Es handelt sich hier um mehr als eine bloße Methode oder Ausführungstechnik der gregorianischen Kantilene. Solesmes’ reformatorische Arbeit hat nämlich der Musik überhaupt neue Wege geöffnet, den unermeßlichen Reichtum der freien Rhythmik geoffenbart, die ernste Größe und zugleich die religiöse Kraft des Diatonismus dokumentiert und die sakrale Musik im strengen Sinn des Wortes wieder in ihre wahre Bahn geleitet.

Zu diesem Erneuerungsprozeß der echten sakralen Musik gesellte sich bald eine zweite Institution, die bekannte „S c h o 1 a canto- r u m", die als Nachfolgerin der Schule Nie- dermeyer Generationen von Organisten, Musikwissenschaftlern und Komponisten herangebildet, die Bachpflege in Frankreich eingeführt und den großen Polyphonisten der Renaissancezeit eine immerwährende Aktualität verliehen hat. Will man nun endlich außerhalb des rein musikalischen Bereichs die anderen kulturgeschichtlichen Elemente aufzählen, die zur Glaubenserneuerung und zur Verchrist- lichung der französischen Elite beigetragen haben, dann müßte man die ungeheure Befruchtung der Literatur und der schönen Künste durch den Glauben eingehend schildern, den geistigen Einfluß eines Huysmans, eines Peguy, eines Claudel erwähnen, und schließlich die echt sakrale Ausstrahlung, die von der Malerei eines Rouault, Pavis de Cha- vannes, Bonnard, Maurice Denis, Desvalliėres, sogar Gauguin und Odilon Redon ausgeht, in Erinnerung rufen.

In dieses Klima außerordentlicher Geistigkeit und tiefer Religiosität muß man sich versetzen, um die heutige sakrale Musik in Frankreich Zu verstehen und gebührend zu würdigen. Es gibt natürlich immer noch Komponisten, die den Akademismus pflegen, schöne und bedeutende Werke religiöser Musik verfassen, indem sie einer Neoklassik, einer Neuromantik oder einem Neoimpressionismus huldigen; auf ähnliche Weise wird es immer Leute geben, die an der Neogotik der am Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Kirchen oder am neobyzantinischen Stil von Fourviėre in Lyon oder von Sacre-Coeur in Paris ihre künstlerische Freude haben werden. Wenn man aber ein Christusbild von Rouault oder eine Glasmalerei von Desvallieres betrachtet und wenn man zugleich religiöse Werke von Caplet, Jehan Alain, Messiaen, Jolivet oder Poulenc anhört, dann empfindet man eine geistige Verwandtschaft, ein seltsames Uebereinstimmen der plastischen, visuellen, linearen und musikalischen Werte alle jene Elemente einer tiefen, genetischen Synthese, die am besten das religiöse Antlitz des heutigen Frankreich widerspiegelt.

Die französische sakrale Musik besitzt nämlich einen fast asketischen Hauch und steht zum heroischen Jubilieren der französi schen Klassik des 17. Jahrhunderts in einem schroffen Gegensatz. Eine auffallende Verwandtschaft weist sie mit der polyphonen Musik des Mittelalters auf: diesen charakteristischen Wesenszug teilt sie übrigens mit manchen anderen Gattungen der zeitgenössischen Musik überhaupt. Diese Verwandtschaft bedeutet aber kein epigonales Nachahmen oder die geschickt künstliche Anwendung der mittelalterlichen Technik der Harmonie oder der Stimmführung. Die zeitgenössische sakrale Musik in Frankreich entspricht wirklich einem urschöpferischen Elan, sie ist die Vertreterin und zugleich die echte Tochter unserer Epoche. Denn zum ersten Male seit dem 17. Jahrhundert scheint sich jetzt in Frankreich, im Rahmen einer „sakralen" Weltanschauung, die von den grassierenden Exzessen der atheistischen oder existentialistischen Lehren eher gefördert als geschwächt wird, eine geschlossene Synthese in fast sämtlichen Bereichen der Kunst und des Intellekts zu verwirklichen. Der französische Katholizismus weist zwar Züge auf, die mit dem ganzen kulturellen Klima unserer Epoche in Zusammenhang stehen, und es ist nicht verwunderlich, daß auch die sakrale Musik keine lächelnde Heiterkeit, kein allzu müheloses Vertrauen ausstrahlt. Nach der kollektiven Panik des Jahres Tausend hatte der Glaube in Frankreich eine feste Sicherheit und ein unumschränktes Vertrauen in die Zukunft errungen, und die sakrale Musik hatte gleich wie die Architektur der Gotik diese seelischen Eigen schaften zum Ausdruck gebracht. Der französische Katholizismus von heute ist ernst: liest man in den Werken seiner besten Vertreter auf literarischem Gebiet, dann sieht man, daß er sogar von der Problematik des menschlichen Schicksals, von der packenden Dramatik unserer angstvollen Epoche völlig durchtränkt ist: kein Wunder, daß die sakrale Musik im zeitgenössischen Frankreich so wie die Plastik und die Malerei dieselben Züge aufweist.

Der Westeuropäer betritt die österreichischen Barockkirchen meistens mit gemischten Gefühlen: er wundert sich über die erstaunliche Familiarität mit dem Jenseits, die sie so naiv zur Schau tragen, und er braucht lange Zeit, um sich an ihre anziehende Grazie zu gewöhnen und ihren Reichtum an verfeinerten christlichen Werten wahizunehmen. Ihre angeborene Zurückhaltung sowie eine gewisse nüchterne Rationalität wird wahrscheinlich immer verhindern, daß aus den Reihen der zeitgenössischen Komponisten Frankreichs ein zweiter „Musikant Gottes" hervorgeht...

Der Emst und die fast düstere Strenge der sakralen Musik im Frankreich von heute kann sie aber nicht daran hindern, über den Gram und den Schmerz hinaus, eine beruhigende Zuversicht zu bewahren, als Ausdruck des nie erlöschenden Lichtes, das die Schriften der großen „Pessimisten" unter den Propheten der französischen Literatur Bloy, Peguy und Ber- nanos erhellt, durchleuchtet und ins Sakrale emporhebt: die christliche Hoffnung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung