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Das Ende des Tunnels

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In dem magistralen Buch des großen Dirigenten Ernest Ansermet „Les fondements de la musique dans la conscience humaine“ (Neuchatel 1962, deutsch bei R. Piper) steht folgender Satz:

„An der Schwelle unserer Epoche ist der westliche Mensch als geistiges Wesen und mit ihm die westliche Geschichte, soweit sie vom menschlichen Bewußtsein abhängt, in einen Tunnel eingetreten. Denn es heißt für den Menschen in einen Tunnel und in die Nacht eintreten, wenn er das Bewußtsein der Grundlagen der Dinge und seiner eigenen Existenz verloren hat."

Dieses kräftige Bild gibt erstaunlich viel für das Verständnis unserer Situation her.

1. Wir leben in der Nacht, in einem geistigen Dunkel. Das klingt sehr pessimistisch, aber

2. das Wort „Tunnel“ zeigt, daß diese Nacht ein Ende haben muß, denn jeder Tunnel, auch der längste, hat ein Ende, und ein Tunnel, der kein Ende hätte, wäre die Hölle.

3. Der Tunnel verbindet zwei Räume, zwei Zeiten. Man kann von dem einen Raum in den anderen nur gelangen, indem man die Nacht des Tunnels durchfährt. In ihm stehenzubleiben, wäre sinnlos.

4. Der Tunnel ist nach den Seiten, gegen die Natur, und nach oben, gegen den Himmel, verschlossen, vermauert. In ihm befindet man sich in einer Umwelt, die nur vom Menschen gemacht ist, aus leblosen Stoffen und nach rein technischen Prinzipien. Es heißt aber „das Bewußtsein der Grundlagen der Dinge und der menschlichen Existenz verlieren“, wenn man den Tunnel mit der Welt verwechselt.

Wie kann sich jemand zutrauen, eine solche Diagnose unserer Situation zu stellen? Für Ansermet ist das Diagnostiken eine eindringende Analyse der zeitgenössischen Musik, in der er vollkommen zu Hause ist. Einige symptomatische Äußerungen Mtou.. SßaöWcKa ,

20. Jahrhunderts, Texte, die man zu wenig beachtet hat, können Anser- mets Diagnose nur bestätigen und die tiefe Wahrheit, die das von ihm gewählte Bild einschließt, zum Bewußtsein bringen.

Im Tunnel sein, heißt jedenfalls, von der lebendigen Natur abgeschnitten sein. Genau das ist aber einer der auffallendsten Züge unserer Zeit, einer, der sie am entschiedensten von der alten Welt unterscheidet. Davon ist in den ungezählten Versuchen, unsere Situation zu diagnostizieren, viel zuwenig die Rede gewesen. Er zeigt sich in zwei Formen: als eine erklärte Feindschaft gegen die lebendige Natur und als eine passive, stumpfe Entfremdung von ihr. Beides hat eine schon mehr als hundert Jahre alte Vorgeschichte.

„Die Anhänger Saint-Simons, die Positiven und Marx haben gemeinsam bewirkt, daß um 1848 herum das Hirngespinst einer Antinatur entstand. Der Ausdruck Antinatur selbst stammt von Comte. In der Korrespondenz zwischen Marx und Engels findet man den Ausdruck ,Antiphysis'. Die Doktrinen unterscheiden sich, aber das Ideal ist das gleiche: die Errichtung einer menschlichen Ordnung, die den Fehlern, Ungerechtigkeiten und blinden Mechanismen der natürlichen Welt genau entgegengesetzt ist. Was diese Ordnung aber vom ,Reich der Zwecke' unterscheidet, das Kant gegen Ende des 18. Jahrhunderts konzipierte und das auch er dem strikten Determinismus entgegenstellte, ist das Einwirken eines neuen Faktors: der Arbeit. Der Mensch zwingt dem Universum seine Ordnung nicht mehr mit Hilfe von Erkenntnissen auf, sondern durch die Arbeit, und zwar seltsamerweise durch die industrielle Arbeit. Am Anfang dieses Antinaturalismus steht nicht etwa eine überlebte Heilslehre, sondern die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts und das Phänomen Maschine."

Doch hierin irrt Jean Paul Sartre, von dem diese Sätze stammen; die Ablehnung der lebendigen Natur, die er richtig hervorgehoben hat, hat ihren Grund anderswo, und davon wird noch zu sprechen sein.

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