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Die satten und die müden Bürger

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Wie lächerlich ist doch dieser 1. Mai. Was wollt ihr denn noch haben? Der Wohlfahrtsstaat hat euch doch alles gegeben, was ihr wünscht. Die Leute wissen ja gar nicht mehr, was sie mit ihrer Freizeit und mit ihrem Geld anfangen sollen. Solche und ähnliche Parolen trommeln jene Herren ununterbrochen,, die den Arbeitern und Angestellten so gerne beibringen möchten, daß doch eine Gewerkschaftsbewegung in Österreich im Jahre 1969 etwas höchst Uberflüssiges ist. Der Kampftag der arbeitenden Menschen in aller Welt ist nach dieser Auffassung höchstens noch ein historischer Gedenktag Ohne'aktuelle Bedeutimg für den österreichischen Arbeitnehmer. Und vielleicht nickt auch der eine oder andere Arbeiter und Angestellte zustimmend zu solchen Ansichten und dreht sich wohlig noch einmal im Bett herum. Heute ist der 1. Mai, da kann ich mich ruhig ausschlafen. Feiern, das überlaßt doch den paar Unentwegten. Wir wollen Ruhe haben und froh sein, wenn es uns nie schlechter geht.

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Wie lächerlich ist doch dieser 1. Mai. Was wollt ihr denn noch haben? Der Wohlfahrtsstaat hat euch doch alles gegeben, was ihr wünscht. Die Leute wissen ja gar nicht mehr, was sie mit ihrer Freizeit und mit ihrem Geld anfangen sollen. Solche und ähnliche Parolen trommeln jene Herren ununterbrochen,, die den Arbeitern und Angestellten so gerne beibringen möchten, daß doch eine Gewerkschaftsbewegung in Österreich im Jahre 1969 etwas höchst Uberflüssiges ist. Der Kampftag der arbeitenden Menschen in aller Welt ist nach dieser Auffassung höchstens noch ein historischer Gedenktag Ohne'aktuelle Bedeutimg für den österreichischen Arbeitnehmer. Und vielleicht nickt auch der eine oder andere Arbeiter und Angestellte zustimmend zu solchen Ansichten und dreht sich wohlig noch einmal im Bett herum. Heute ist der 1. Mai, da kann ich mich ruhig ausschlafen. Feiern, das überlaßt doch den paar Unentwegten. Wir wollen Ruhe haben und froh sein, wenn es uns nie schlechter geht.

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Uns geht es gut? Erfreulicherweise ja, sehr vielen geht es zumindest relativ gut. Das heißt, wenn sie ihren Lebensstandard mit dem ihrer Eltern vergleichen, haben wir manches erreicht, was vor 30 Jahren für einen Arbeiter noch unvorstellbar gewesen wäre. Aber auch in Österreich gilt das bei weitem nicht für alle. Wenn in einer Familie mit mehreren Kindern nur einer verdient, ist die Anschaffung eines Anzuges oder eines Paares Schuhe noch immer ein Problem. Für einen Rentner kann die Erhöhung des Milchoder Brotpreises eine Existenzfrage sein. Und vergessen wir nicht auf ein paar Kleinigkeiten in der Welt rings um uns. An diesem 1. Mai 1969' leben mehr als drei Milliarden Menschen auf der Erde. Zwei Milliarden davon leben in Hütten und Höhlen,ohne Fabriken, ohne Krankenhäuser, ohne Schulen. An diesem 1. Mai 1969 werden tausende in der Welt verhungern, weil es nicht zu einer Handvoll Reis reicht. Mehr als eine Milliarde' Menschen werden satt sein, zu satt. Sie werden schläfrig sein, aber sie werden in Angst leben, ohne Gewißheit des Friedens. Auch in Österreich gehören viele zu den Satten und Müden. Wir mögen keine Politik, wir feiern lieber zeitgemäß: mit Frauen, Kindern und Brathühnern bevölkern wir Wälder und Wiesen. Und weil solches Feiern irgendeinmal aufhört, einen Sinn zu haben, droht - der eine oder andere des Feierns müde zu werden. Das große ungelöste Problem, vor dem die Menschen im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, in der Zeit der Atomtechnik und der Automation stehen, ist: Können wir den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt auch geistig bewältigen? Es wäre eine Konkurserklärung der Gewerkschaftsbewegung, wenn sie den Menschen nicht mehr bringen könnte als mehr Fernsehapparate, Kühlschränke, Autos, mehr Lebensstandard. Die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen ist Voraussetzung, aber nicht Vollendung eines Kulturstaates. Durch die Behebung der materiellen und sozialen Not soll der Mensch ansprechbar werden für die großen Anstrengungen, die er der Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit widmen muß. Gerade in den Ländern, in denen die fortgeschrittene Technik eine zunehmende Steigerung des Lebensstandards mit sich bringt, muß die Gewerkschaifitsbewe-gung mehr und mehr Energie darauf verwenden, daß jeder auch Anteil an den kulturellen Gütern nehmen kann. Heute sind Probleme der kulturellen und geistigen Freiheit gegenüber den sozialen und ökonomischen Fragen gleichwertig. Wenn heute gerade in der österreichischen Gewerkschaftsbewegung die Forderung nach mehr Demokratie erhoben wird, so heißt dies meines Erachtens als erstes mehr Bildung, mehr Information, mehr kritische Konfrontation. Es gibt keine Demokratie ohne ein gewisses geistiges Existenzminimum. Eine neue Zeit erfordert ein neues Denken, eine neue Generation von Menschen. Diese Generation muß den Mut zu einer neuen Sachlichkeit gewinnen, den Mut zur Wahrheit, auch wenn sie unpopulär ist, zu einer Weltoffenheit, die Raum hat auch für den Andersdenkenden und Andersfarbigen. Die Gewerkschaftsbewegung hat Gewaltiges für die Sicherung der sozialen Rechte getan, sie hat materielle Not gelindert, aber die Verwirklichung ihres eigentlichen Anliegens liegt noch vor ihr. Die Gewerkschaften sind heute nicht weniger als andere Kräfte in Gefahr, to die Rolle einer bloßen Interessenvertretungsorganisation zu geraten. Die politisch Verantwortlichen auch in der Arbeiterbewegung müssen dazu finden, Politik nicht von Opportunismus und Pragmatismus bestimmen zu lassen, sondern auch die praktische Alltagspolitik aus einem Weltbild der Menschlichkeit zu gestalten.

1. Mai heißt heute: Der Mensch drohte am Beginn des Industrie-Zeitalters in einem entpersönlichten Produktionsprozeß verlorenzugehen. Der österreichischen Arbeiterbewegung ist es gelungen, in einem jahrzehntelangen Ringen für den arbeitenden Menschen den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufstieg zu erkämpfen. Das Ringen um die geistige Freiheit, um die Menschenwürde des Arbeitnehmers in der Industriegesellschaft hat erst begonnen und muß mit aller Macht weitergeführt werden, soll nicht der technische Fortschritt zu einem Fluch für den Arbeiter werden. Es wäre allerdings nicht gut, wollten wir als Gewerkschafter mehr Demokratie, mehr Humanität immer nur von den anderen fordern, ohne selbst mit dem,eigenen guten Beispiel voranzugehen.

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