6540800-1946_40_01.jpg
Digital In Arbeit

Die unsoziale Indikation

Werbung
Werbung
Werbung

Die Sowjetunion hat mit dem Gesundheitsgesetz, das — anfänglich mit großem Enthusiasmus von Politikern, mit geringerem von Medizinern begrüßt — der sogenannten sozialen Indikation, dem Eingriff in das keimende Leben aus sozialen Rücksichten, Raum geben zu müssen glaubte, im Jahre 1936 mit großer Entschlossenheit aufgeräumt. Die Fo'gen des Gesetzes waren katastrophal gewesen. Rußland besitzt unter normalen Umständen eine Geburtsrate, die so glänzend ist, daß sie ihm durch das Anwachsen der menschlichen Macht und Leistungsfähigkeit größere Siege unblutiger Art garantiert, als es auf dem Schlachtfelde gewinnen kann Den durch die Erfahrungen nahegelegten und ohne langes Zögern angetretenen Rückzug markierte ein neues Gesetz der Sowjetlegislatur mit strengen Einschränkungen. Vielleicht besteht heute nach den Verheerungen, die der Krieg in den Familienständen und in den Gesundheitsverhältnissen Rußlands zurückgelassen hat, sogar ein Bedauern, daß man nicht noch weiter von der früheren Gesetzgebung abgerückt ist.

Jedenfalls ist es ein Warnungssignal, das Sowjetrußland in seiner Legislatur gegen die soziale Indikation abgegeben hat. Österreich ist nicht im entferntesten in der glücklichen Lage der Sowjetrepubliken in bezug auf Bevölkerungszuwachs und Sicherung seiner volklichen Zukunft. Seine Geburtsrate ist eine der niedrigsten in ganz Europa. Das Überwiegen der hohen Altersjahrgänge, die Entwicklung zum Pensionistenstaat, in dem eine kleinere Anzahl Junger für die Altersrenten einer größeren Zahl arbeiten muß, ist jetzt schon sichtbar. Geht es so weiter, dann wird man in fünf Generationen die noch lebenden wirklichen Österreicher mit der Laterne suchen müssen.

In dieser Situation kündigt der Herr Sozialminister M a i s e 1 eine „große Reform auf dem Gebiete des Gesundheitswesens“ und in diesem Rahmen auch eine Revision des Gesetzes zum Schutze des keimenden Lebens durch die Aufnahme der „sozialen Indikation“ an. Das heißt, der Schutz des vor der Geburt stehenden Lebens, soweit er bisher noch bestand, soll praktisch beseitigt werden, den Abtreibungen, die jetzt schon in einem erschreckenden Umfang in gewissen Anstalten tind von allzu geschäftlich veranlagten Ärzten als ärztliche Schutzmaßregel betrieben werden, soll nun auch „sozialer Notstand“ als Rechtfertigung zugrunde gelegt “werden. Das ist eine Formel von verhängnisvoller Dehnbarkeit. Man darf annehmen, daß von den Vätern des angekündigten Gesetzentwurfes, die den Herrn Sozialminister beraten haben die Logik des Themas nicht bis zu Endt gesponnen worden ist. Wir glauben nicht, daß sonst ein gewissenhafter Volksmann irgendeiner Partei zu einem solchen Plane sich verstehen würde.

Es gibt bei uns soziale Notstände. Sogar schreiende. Diese Notstände sind durch eine s o z : a 1 e Gesetzgebung zu bekämpfen, aber nicht durch Maßnahmen, die geeignet sind, die Axt an den Lebensbaum des Volkes zu legen, den Familiensinn auszurotten und die Bequemlichkeit und den 'eichtfertigen Lebensgenuß verantwortungsloser Menschen hochzuzüchten.

Bedenkt man es, wo es endet, wenn man einmal beginn., an den Urgesetzen des menschlichen Lebens sich zu vergreifen? Mit der Tötung des keimender Lebens fängt es an, mit der Euthanasie, der Tötung des sogenannten „lebensunwerten Lebens“, der Krüppel, der Siechen, Schwachsinnigen, der Unbequemen, geht es weiter und am Ende dieser Leugnung des Lebensrechtes der

Schwächeren nicht zur wirksamen Verteidigung Fähigen steht die Verkündigung des Rechte des Stärkeren, der Macht und der Gewalt. Und steht der Krieg! Hat diesen schrecklichen Dämon nicht erst jüngst der Nationalsozialismus mit seiner Rassen- und Herrschaftslehre erfolgreich zitiert und erbleichte bei dem Aufbruch der Unterwelt nicht die jranze zivilisierte Menschheit?

Es gibt kein Recht zu töten, unschuldiges Leben zu vernichten. Diese unmenschliche Barbarei darf sich auch in Gestalt der „sozialen Indikation“, die nur eine Flucht der Gesetzgeber vor der sozialen Tatbereitschaft wäre, nicht wieder in unserer Mitte blicken lassen. f.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung