Glücksspiel Gerechtigkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Warum Recht nicht gerecht ist, erklärt der Jurist und Journalist Rolf Lamprecht. Viele mögliche Lösungen gibt es, aber nicht die eine gerechte Regelung.

Die Gerechtigkeit ist ein Grundgedanke und eines der unerschöpflichen Themen der Menschheit. Diese Frage beschäftigt nicht nur Philosophen und Juristen, sondern jedes soziale Wesen, das in Bezug mit anderen lebt. Als Begriff wird die Gerechtigkeit von mehreren Lehren in Anspruch genommen, vom Recht, der Tugend oder der Religion. Sie bezieht sich auf Menschen sowie ihre Handlungen und jeder Mensch hat ein mehr oder weniger ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Er hat einen Sinn beziehungsweise ein natürliches Empfinden dafür, was gerecht und was ungerecht ist.

Der, der über die Gerechtigkeit nachdenkt, muss sich zuerst fragen, was er damit meint, wenn er etwas als gerecht oder ungerecht bezeichnet. Durch die Geschichte ist den denkenden und intelligenten Menschen freilich eines gemeinsam: Das Streben nach Gerechtigkeit, das zweifellos eine Form des Friedenstiftens ist. Der redliche Mensch strengt sich unaufhörlich an, gerecht zu sein, und zwar mit der Gewissheit, es nie wirklich sein zu können, zumal sich nicht einmal die größten Juristen einig sind, was Gerechtigkeit ist und wie man sie in eine allgemein verständliche Formel fassen könnte.

Viele Gerechtigkeiten

Hans Kelsen, der "Vater unserer Bundesverfassung", behauptet, es gebe nicht einen Gerechtigkeitsbegriff, sondern viele. Jeder Mensch wird für sich jene Formel aussuchen, die seiner Vorstellung von Gerechtigkeit nahekommt. Der deutsche Rechtsphilosoph Ralf Dreier drückt Gerechtigkeit ziemlich verständlich aus: "Maßstab dessen, was einem jeden zusteht, ist das Recht." Er meint, diese Gleichung sei eine Abwandlung der ältesten: "Jedem das Seine."

Nun hat der deutsche Jurist und Spiegel-Journalist Rolf Lamprecht ein Buch über die ewige Menschheitsfrage geschrieben, in dem er meint, Gerechtigkeit sei eine Glückssache. Das Problem beginnt bei den rechtssuchenden Menschen, die seit alters her Schwierigkeiten haben, Recht und Unrecht nach den Kriterien der Gerechtigkeit sicher zu unterscheiden. In nahezu allen nicht gesetzlich festgelegten Regelungsfragen gibt es viele mögliche und vertretbare Lösungsmuster, nicht aber die eine gerechte Regelung, obwohl die Sehnsucht nach der wahren Gerechtigkeit zum Kernbestand menschlicher Glücksvorstellungen gehört.

Von Menschenhand

Recht wird immer von Menschen gemacht, und seien es die kompetentesten Juristen, trotzdem unterliegt es Irrtümern, wie Rolf Lamprecht völlig richtig konstatiert. Fehler und Willkür sind nicht auszuschließen. Nicht einmal bei den obersten Gerichtshöfen, deren Arbeit der Journalist jahrelang beobachtet und beschrieben hat. Die Pluralität der Gerechtigkeit bleibt trotzdem Vorbedingung unserer Freiheit. Gerechtigkeit ohne Freiheit gibt es, was zumindest seit der Aufklärung gelehrt wird, nicht.

Lamprecht begründet seine Glückssache-Theorie auf dem alten Spruch, wonach jedermann vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand sei, was heißen soll, dass dem Recht irrationale Kräfte innewohnen, was eine Ähnlichkeit zum Glücksspiel suggeriere. Allein die Tatsache, meint er, dass es von Instanz zu Instanz oft völlig entgegengesetzte (Rechts-)Meinungen gäbe, zeuge von der Relativität des Rechts.

Anhand beispielhafter Fälle lässt der Autor den Leser an der Herstellung des Rechts teilhaben. Er berichtet über Konflikte mit dem Staat und private Fehden, über Vaterschaftstests und Sterbehilfe sowie über die eigene Kampfscheidung eines Familienrichters. Kurz, über Spannung pur.

Der Mehrwert dieses Buchs ist der Erklärungsversuch, weshalb Recht nur die Summe vieler Teilwahrheiten ist, wie es entsteht und wie es auch wieder vergeht. Insgesamt vermittelt der Autor aber auch anschaulich die Schwierigkeiten richterlicher Arbeit.

Bleibt über allem noch die Frage: Was also ist Gerechtigkeit? Der US-amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls versucht in seiner "Theorie der Gerechtigkeit", Kriterien zu finden, nach denen sich beurteilen lässt, ob eine Gesellschaft gerecht ist oder nicht. Rawls sagt, dass eine tatsächlich gerechte Gesellschaft sich dadurch auszeichne, dass jedes Mitglied ihr zustimmen könne, auch wenn es über seine eigene Stellung in dieser (noch) nichts wüsste. Die Gesellschaft habe ein faires System des Zusammenlebens zu ermöglichen.

Frage der Ethik

Ich meine, die Gerechtigkeit ist letztlich eine Frage der Ethik und die Antwort auf das richtige menschliche Verhalten - oder zumindest das Streben danach. Eine mögliche Auslegung ist die Feststellung, dass die Gerechtigkeit der Versuch ist, alle Mitmenschen anständig und moralisch angemessen zu behandeln. Auch meine ich, und zwar nach der Lektüre des Lamprechtschen Buchs einmal mehr, Juristen sollten dazu beitragen, dass fairer Handel betrieben, soziale Ungleichheiten abgebaut, Minderheitenrechte erfüllt und Diskriminierungen angeprangert werden, damit in der Gesellschaft (irgendwann) sozialer Frieden herrschen kann.

Die Lebenslüge der Juristen

Warum Recht nicht gerecht ist

Von Rolf Lamprecht

Deutsche Verlagsanstalt und Spiegel Buchverlag, München, Hamburg 2008

271 Seiten, geb., € 20,60

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung