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Gerechtigkeit — was ist das?

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Die Frage der Familienbesteuerung berührt ein grundsätzliches Problem: Wie gerecht sind die Güter dieser Welt verteilt?

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Die Frage der Familienbesteuerung berührt ein grundsätzliches Problem: Wie gerecht sind die Güter dieser Welt verteilt?

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Es gibt Begriffe, mit denen alle gern argumentieren, um deren Verwirklichung angeblich jeder bemüht ist. Einer davon heißt Gerechtigkeit. Man kann je nach Standort nach ihr hungern und dürsten oder sie für sich in Anspruch nehmen und dabei oft nicht wahrhaben (wollen), daß man von ungerechten Zuständen profitiert. Doch ganz ausblenden kann die Menschheit die Frage nach der Gerechtigkeit nicht, denn sie ist nicht nur philosophisch, sondern sie greift tief in unseren Alltag, in unser politisches Leben, in unsere Existenz hinein. Immanuel Kant hat gemeint: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen leben auf Erden.” Gerechtigkeit - was ist das?

Eine blinde Frau mit einer Waage, die versucht, „jedem das Seine” - so Cicero- zuzuteilen? Ambrosius erklärte: „Gerechtigkeit gibt jedem das Seine, maßt sich nichts Fremdes an und setzt den eigenen Vorteil zurück, wo es gilt, das Wohl des Ganzen zu wahren.” Aber was heißt das in der Praxis? Was steht im täglichen Verteilungskampf einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft dem einzelnen zu? Wo beginnt und wo endet für ihn die Verpflichtung, das Wohl des Ganzen im Auge zu haben?

Fast scheint es heute, Friedrich Nietzsche behalte mit seiner skeptischen Ambrosius-Weiterführung recht: „Jedem das Seine geben: Das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen.” Sind wir heute auf Erden der Gerechtigkeit näher oder dem Chaos?

Ist es gerecht, wenn manche in kurzer Zeit durch einige clevere Transaktionen Millionen scheffeln und andere trotz harter Arbeit am Hungertuch nagen? Sind die Güter dieser Welt gerecht verteilt, wenn einer nur mehr den Inhalt einiger Plastiksackerln besitzt, währen andere gustieren können, welchen Luxus sie sich morgen leisten werden? Herrscht in der Welt der Arbeit oder der Politik Gerechtigkeit? Oder kämpft nur jeder um die Durchsetzung „wohlerworbener Rechte”?

Gibt es sie also wirklich, die Gerechtigkeit? Ist allen oder wenigstens vielen einsichtig, was im Einzelfall ein „gerechter Lohn”, was anderseits eine „gerechte Strafe” ist? Genügt es, wenn jene, die im Uberfluß leben, damit argumentieren, sie würden eben „leistungsgerecht” bezahlt?

Glaubt man den Politikern, so gilt ihr ganzes Trachten dem Ziel, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Aber ergreifen sie dazu die richtigen Mittel?

Daß Gerechtigkeit vielschichtig ist, darauf hat Hel-muth Schattovits, der Leiter des Österreichischen Instituts für Familienforschung, unlängst vor einer Journalistenrunde hingewiesen. Am Beispiel des jüngsten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) zur Familienbesteuerung verwies er darauf, daß in der politischen Realität drei verschiedene Dimensionen von Gerechtigkeit in dieses Problem hineinspielen:

□ die Geschlechter-Gerechtigkeit, die den Ausgleich zwischen Mann und Frau zum Ziel hat,

LI die sozioökonomische Gerechtigkeit, die einen Ausgleich zwischen Arm und Reich herstellen will, und

□ die Generationen-Gerechtigkeit, der es um Verantwortung der drei Generationen füreinander geht, insbesondere um die Verantwortung der Erwerbstätigen für die noch nicht und die nicht mehr Erwerbstätigen.

Schattovits sieht im Urteil des VfGH die Chance für eine umfassende Diskussion, in der klar sein muß, daß in jedem Bereich andere Ziele verfolgt werden und daher unterschiedliche Maßnahmen zu' setzen sind. Eine Einzelmaßnahme kann nur einem Ziel dienen, mag sie auch Nebeneffekte auf andere Bereiche haben, für drei Ziele benötigt man auch mindestens ebenso-viele Maßnahmen.

Konkret: Das VfGH-Urteil besagt nur, daß die derzeitigen

Maßnahmen, um einen Ausgleich zwischen Kinderlosen und Unterhaltspflichtigen herzustellen, nicht ausreichen. Es ist eine Überforderung, von solchen Maßnahmen auch einen verbesserten Ausgleich zwischen Arm und Reich oder Mann und Frau zu verlangen. Für durchaus wünschenswerte Umverteilungen in diesen Bereichen sind andere Schritte nötig, für die das Budget auch andere Möglichkeiten bieten müßte. Man vergleiche nur die Summen, die jetzt zur Abgeltung der Familienlasten im Gespräch sind, mit dem gesamten Steueraufkommen.

Ein interessanter Ansatz von Schattovits, um das Problem des Generationenvertrages gerecht zu lösen: Wie jene, die nicht mehr erwerbstätig sind, von der gesamten erwerbstätigen Generation erhalten werden, so sollten es auch die Kinder und Jugendlichen werden. Der Unterschied bestehe nur darin, daß die Pensionisten ihr Geld direkt beziehen, während es bei den noch nicht Erwerbstätigen über Erziehungsberechtigte - in der Regel die Eltern oder einen Elternteil -läuft. Die Sozialversicherungsbeiträge, mit denen der Unterhalt von Pensionisten bezahlt wird, seien von der Steuer absetzbar, ebenso sollten es - bis zu einem Höchstbetrag - die Unterhaltszahlungen für Kinder sein. Allenfalls müssen Pensionisten und müßten auch Kinder von ihrem Einkommen Steuern bezahlen.

Die aktuelle Familiendiskussion ist nur ein Beispiel für die Rolle von Gerechtigkeit: jedem das Seine zu geben, ohne das Gemeinwohl zu gefährden oder gar ein Chaos herbeizuführen. Darum wird man ständig ringen müssen, ideal verwirklicht wird das nie sein.

Denn schon der Volksmund weiß, daß keiner die Kunst beherrscht, es allen Leuten recht zu tun, und ein weises Wort der Schriftstellerin Marie von Eb-ner-Eschenbach lautet: „In der Jugend meinen wir, das Geringste, das die Menschen uns gewähren können, sei Gerechtigkeit. Im Alter erfahren wir, daß es das Höchste ist.”

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