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Die Entwicklungen auf dem Gebiet der Biotechnologie sowie der 11. September und seine Folgen haben das ablaufende Jahr bestimmt.

Es rangiert zwar nicht auf den saisonüblichen Listen der (Un-)Wörter des Jahres - und doch: Suchte man nach einem Wort, das die Empfindungen, die Befindlichkeit vieler Zeitgenossen anno 2001 widerspiegelt, man müsste dieses zuvörderst nennen: "Dammbruch". Von einem solchen war die Rede in der Auseinandersetzung um das ungeahnte, rasante Fortschreiten auf dem Gebiet der Biotechnologie (mit den Reizwörtern "Stammzellen" und "Klonen"), ebenso in der durch eine niederländische Gesetzesänderung neu aufgeflammten Diskussion über die Sterbehilfe. Von der Sache her wurden zweifellos auch die Anschläge von New York und Washington so wahrgenommen - als Dammbruch der Gewalt, wenngleich hier der Begriff selbst kaum verwendet wurde.

Für radikale Zivilisationskritiker fügen sich die genannten Ereignisse nahtlos in ihre Sicht des Menschen und seiner Welt, die sich mehr und mehr von ihrem (göttlichen) Ursprung, ihrer eigentlichen Bestimmung entfernten. Was diese Minderheit scharf artikuliert, findet dabei durchaus teilweise Zustimmung breiterer Schichten, die - wer könnte es nicht verstehen - vielfach von einem oft diffusen Unbehagen erfasst sind. Auf der anderen Seite stehen jene, die sich vom Bersten der Dämme die Über- und Durchflutung mit neuen Möglichkeiten an Erkenntnisgewinn, an wirtschaftlichem Wohlergehen, letztlich zur besseren Gestaltung menschlichen Zusammenlebens erhoffen. Dennoch verwenden diese von aufklärerischem Impetus Angetriebenen lieber das Wort "Grenzüberschreitung", welches das aktive Element betont, den Menschen als Handelnden in den Mittelpunkt stellt. Die Ereignisse des 11. September lassen sich bei dieser Sichtweise freilich nicht hierunter subsumieren, vielmehr erscheinen sie demnach als Ausdruck eines Zuwenig an Grenzüberschreitung, Aufklärung, Moderne.

Schwierig genug ist es, sich bei all dem einen einigermaßen nüchternen Blick zu bewahren. Einen, der nicht durch Angst und regressive Flucht ins vermeintlich Sichere getrübt ist, aber auch nicht durch Fortschritts- oder Zukunftseuphorie - die heimliche Ideologie unserer Zeit - verstellt. Versucht man es, um der Vernunft die Ehre zu geben, wird man sich einigen fundamentalen Einsichten nicht verschließen können. Zu diesen zählt, dass der Mensch seit jeher in seinem Drang nach Wissen, Macht und Gewinn die Grenzen seines Denkens und Handelns auszuweiten bestrebt ist. Es gibt nicht die Zäsur, den Punkt, an dem sich sagen ließe oder hätte lassen: bis hierher und nicht weiter. Sämtlichen Versuchen, solches zu definieren, haftet notgedrungen etwas Willkürliches an. Man mag in diesem oder jenem einen in besonderer Weise markanten Einschnitt erkennen, den man dann als "Dammbruch" bezeichnet. In Wahrheit aber lässt sich die ganze Geschichte des Menschen als eine einzige Abfolge von Dammbrüchen lesen. Das Herstellen der ersten Steinwerkzeuge war ebenso ein solcher wie die Erfindung des Buchdrucks oder der Dampfmaschine.

Die Bibel kennt gleichwohl eine entscheidende Zäsur: den Sündenfall. Die Erzählung muss indes - darauf hat etwa Erich Fromm zu Recht hingewiesen - in ihrer ganzen Ambivalenz begriffen werden. Zwar fällt der Mensch durch die Nichtbeachtung des Gottesgebotes aus der absoluten Geborgenheit heraus, doch beginnt erst damit seine Freiheitsgeschichte - auch und gerade Gott gegenüber. Der paradiesische Zustand "im Anfang" ist einer der Unmündigkeit, der Gewinn der Übertretung ist die Selbstbestimmung, deren Preis Schuld und Leid.

Was dürfen wir?

Das sagt sich leicht in abstrakter Form. Aber: "Dürfen wir eigentlich lauter Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was daraus wird?" fragt Eugen Drewermann in einem großen in Buchform erschienenen Interview mit dem Titel "Wozu Religion?" Noch einmal: Wir tun solche Dinge seit Anbeginn der Schöpfung. Nicht zu leugnen ist freilich, dass diesem Tun angesichts der technologischen Möglichkeiten eine neue, zum Teil bedrohliche Qualität zukommt. Es verhält sich hierbei wie mit der Globalisierung: Diese ist nichts anderes als die Fortschreibung des uralten Prinzips grenzüberschreitenden Handels unter den Bedingungen des Internet-Zeitalters. Ebendiese Bedingungen aber bedeuten einen qualitativen Sprung, haben die Spielregeln entscheidend verändert.

Friedrich Nietzsche hat die Grundsituation sehr scharf gesehen: "Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem anderen gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst." Man könnte das weiterführen: So wie die aus der jüdisch-christlichen Tradition hervorgegangene Aufklärung sich gegen ihre religiösen Wurzeln gewendet hat, so könnte sich das aufgeklärte Bewusstsein in letzter Konsequenz gegen sich selbst richten, der Mensch sich selbst "abschaffen". Der Ausgang des mit dem Sündenfall begonnenen Spiels ist offen.

Wohl nicht zufällig wurde in der bioethischen Diskussion um die Herstellbarkeit und Verfügbarkeit des Menschen ein zentraler Satz des christlichen Credos ins Spiel gebracht: "genitus, non factus" - "gezeugt, nicht gemacht" heißt es da von dem, der Mensch geworden ist. Von dem, der als ein Versprechen Gottes in die Welt gekommen ist: dass genau diese "gottlose", "gottferne" Welt Zukunft hat; dass menschliches Leben bei aller Widersprüchlichkeit auf Gelingen angelegt ist; dass die Freiheitsgeschichte des Menschen auch Heilsgeschichte sein könnte. Das ist die Botschaft von Weihnachten, die große Grenzüberschreitung Gottes, wenn man so will: Gottes Dammbruch.

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