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Landkarte als ästhetischer Genuß

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WELTATLAS DER HERDER-BUCHGEMEINDE. Herder-Verlag. 63 Karten, 30 Seiten Tabellen, 104 Seiten Namenregister. Leinen, Schulatlasformat. Mitgliederpreis 210.90 S.

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WELTATLAS DER HERDER-BUCHGEMEINDE. Herder-Verlag. 63 Karten, 30 Seiten Tabellen, 104 Seiten Namenregister. Leinen, Schulatlasformat. Mitgliederpreis 210.90 S.

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Mit einem gewissen, stark politisch nuancierten Vergnügen sucht der Leser auf der Karte der Sowjetunion die Stadt Stalingrad — vergeblich; er findet sie auch unter den 80.000 Namen des Registers nicht. Die Stadt Wolgograd tritt ihm ohne jeden Hinweis auf vormalige Nämlichkeit unter die Augen.

Ansonsten ist das Durchblättern eines neuen Kartenwerkes heute in politischer Hinsicht weniger amüsant. Aber ein Weltatlas spiegelt ja nicht nur politische Verhältnisse. Nicht einmal in erster Linie. Er informiert vor allem über „Physikalisches", wie es so schön heißt. Und bereitet, nebenbei und mehr oder weniger unbeabsichtigt, einen ästhetischen Genuß. Schlägt nicht zuletzt auch unsere Phantasie in seinen Bann …

Das müßte ein trockener Geselle sein, der es in seiner Schulzeit nicht kennengelernt hätte, dieses Sich-selbst-Vergessen und Eintreten in die Landkarte, dieses Gewundenen-Flußläufen-Folgen und Höfa enlinien-Betasten — ohne jeden Bildungszweck. Phantasiebegabte Schüler stürzen beim Betrachten schöner Kartenbilder in einen erregenden Gefühlswirrwarr, zusammengesetzt aus ästhetischen Empfindungen und Fernweh.

Der vorliegende neue Atlas, mit seinen nicht nur exakten, sondern auch farblich wunderbar abgestimmten Kartenbildern reißt alle in ungezählten verträumten Geographiestunden der nach unbekannten Fernen dürstenden Seele geschlagenen Wunden wieder auf. Was wollte man nicht alles! Und die Schulstube war so eng. Man schlägt eine Karte auf, irgendeine — alles wieder da!

Aber sie kannten ihre Pappenheimer, die Herausgeber dieses Kartenwerkes, und bestellten bei Rolf Italiaander einen 32 Seiten langen Aufsatz über die Geschichte der Kartographie und über die Genüsse, die sie zu schenken vermag. Im Text erscheint ein Verslein von Jonathan Swift: „Die Afrika-Geographie ist Lük- kenfüllerphantasie — wo man nichts einzutragen fand, erscheint ein wilder Elefant!“ Wilde Elefanten beziehungsweise Nomadenzelte und Lehmhütten, Pagoden und Bürgerhäuser an Grachten, Weltstadtlandschaften von Tokio bis Berlin, Moscheen und mexikanische Zyklopenmau ern erscheinen auch auf den 150 Farbbildern, die dem Aufsatz beigegeben sind, aber nicht, weil man nichts einzutragen fand, sondern nur, um die Qual perfekt zu machen.

Leser, seid gewarnt! Ist der Atlas erst einmal aufgeschlagen, ist es zu spät.

Atlanten sollten verboten werden. Atlanten zählen zu den gefährlichsten Suchtgiften. Sie bereiten uns Genuß und erfüllen uns mit Schmerz. Sie sagen uns: Sieh her! So groß ist die Welt! So schön! Hier könntest du sein, wo eine scharfe Grenze zwischen dunkler Schraffur und hellem Grün den steilen Abfall eines Gebirges in unendliche Ebenen markiert. Oder hier, auf diesem winzigen Punkt im unermeßlichen Blau.

So groß ist die Welt — und so wenig siehst du davon!

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