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Glanzvolles Mittelalter
Das Mittelalter. Geschichte und Vermächtnis. Von Leopold Ginicot. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln. 467 Seiten und 16 Bilder. Preis 186 S
Das Mittelalter. Geschichte und Vermächtnis. Von Leopold Ginicot. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln. 467 Seiten und 16 Bilder. Preis 186 S
Die erste französische Ausgabe dieses Werkes des Löwener Historikers Leopold Genicot erschien 1950. Die deutsche Bearbeitung, versehen mit einem eigenständigen bibliographischen Anhang von Sophie Buchmayer, liegt nun seit Ende 1957 vor. Die Jahre der Erscheinung zeigen bereits an, daß es sich hier um ein Werk handelt, das sich im schnellen Fluß der Zeit zu behaupten vermag. Nun hat gerade die Erforschung des Mittelalters in den letzten Jahrzehnten einen rapiden, in manchen Bereichen, wie etwa der Frühmittelalter- und der Spätmittelalterforschung, einen geradezu stürmischen Aufschwung genommen. Heute sieht der Blick des Forschers Probleme, eine Fülle von Fragen und Fragwürdigkeiten, wo noch vor wenigen Jahrzehnten „einfache“ Sachverhalte vorzuliegen schienen. Immer schwerer wird es da, eine „klassische“ Darstellung zu schreiben, einige große Grundlinien herauszuarbeiten, große Phänomene in klaren Gestalten und Bildern vorzustellen, ohne das wissenschaftliche Wissen und das Gewissen der hellhörig gewordenen Zeit zu verletzen. Vielleicht konnte nur einem im romanischen Geistesraum beheimateten Forscher, der zugleich um Fragen deutscher Wissenschaft weiß, ein solches Werk gelingen. 1
Genicots Werk ist, im guten Sinn des Wortes, von klassischer Einfachheit. Er unternimmt es, für ein breites Publikum in großen Zügen die „Kulturgeschichte“ Europas, etwa vom 5. bis zum 15. Jahrhundert, darzustellen. Mit Recht legt er für diese Geschichte des inneren Europas, seiner Spiritualität, Geistigkeit, aber auch seiner kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen, den Hauptakzent auf die Entwicklung im romanischen Raum, in Westeuropa, mit der Zentrierung in Frankreich. Die dem deutschsprachigen Leser geläufige Schwerpunktbildung auf das Heilige Römische Reich läßt gerade den nach knapper Einführung in die
wesentlichen Strukturen europäischer Geschichte Verlangenden oft übersehen, daß, bei aller Größe und Tragik der politischen Kämpfe und Szenerien der Kaisergeschichte und des Mittelalters, das „Wichtigste“ doch im romanischen und weiterhin westeuropäischen, das normannische England einschließenden Raum geschah: die Grundlegung und Ausbildung der geistigen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen, auf denen unsere freie Welt heute noch ruht, ohne die sie undenkbar ist. Das erste Alphabet des Denkens und Fühlens wurde dort, im Westen, geschaffen. Und es ist gut, im Sinne allmählicher Oeffnung des mitteleuropäischen Bewußtseins zu einer wirklich universalen, zunächst wenigstens europäischen Geschichtsschau, daß ein Verlag, der in Oesterreich und Deutschland seine Basen hat, dieses anregende, „klassisch westeuropäische Werk“ dem Leser deutscher Zunge vorstellt.
Es hätte wenig Sinn, bei einem solchen Werk, das tausend Jahre in großen Zügen umreißt, an Einzelheiten der Darstellung zu beckmessern. Um so weniger, als der Verfasser in scharmanter Weise in seinem Vorwort dem möglichen Einwand, daß einzelne Phänomene zu kurz kommen, entgegnet, daß der Blick des Lesers durch die Aufzeigung der inneren Ambivalenz und Vielfalt verwirrt würde.
Die gewandte und einfühlungsstarke Uebersetzerin und Bearbeiterin — wie ihr Anhang ausweist, eine sehr konservativistische geistige Erscheinung — entledigt sich ihrer nicht leichten Aufgabe mit Geschick und Klugheit. Es darf hinzugefügt werden, daß die sorgfältig gewählten Bilder, die durchaus nicht Klischeebilder — uns allen vertraut durch gewisse Mittelalterbildbände — wiedergegeben, und die sorgfältige Ausstattung diesen Band zu einem Geschenkband im besten Sinn des Wortes machen.
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