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Anläßlich des 90. Geburtstages von Josef Matthias Hauer fand in Wr. Neustadt eine Gedächtnisausstellung statt. Veranstaltet wurde sie vom Josef-Matthias-Hauer-Kreis unter der Leitung von Victor Sokolowski. Die periphere Lage der Ausstellung, welche Hauers Stellung im heutigen Wiener Musikleben spiegelt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hauers musikalisches Werk eine der interessantesten Konzeptionen unerer Zeit auf diesem Gebiet darstellt.

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Anläßlich des 90. Geburtstages von Josef Matthias Hauer fand in Wr. Neustadt eine Gedächtnisausstellung statt. Veranstaltet wurde sie vom Josef-Matthias-Hauer-Kreis unter der Leitung von Victor Sokolowski. Die periphere Lage der Ausstellung, welche Hauers Stellung im heutigen Wiener Musikleben spiegelt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hauers musikalisches Werk eine der interessantesten Konzeptionen unerer Zeit auf diesem Gebiet darstellt.

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Hauer, der sich seit 1919 für seine Kompositionen ausschließlich des Zwölftonsystems bediente (das, wie man immer wieder betonen muß, mit dem Schönbergschen nichts gemeinsam hat), interessierte sich von Anfang an besonders für das Problem der Klangfarbe. Für ihn war die Klangfarbe nur in zweiter Linie ein Produkt des jeweiligen Instruments, in erster Linie sah er in der Klangfarbe den elementarsten Ausdruck der musikalischen Sprache überhaupt, da in ihr bereits alle wesentlichen Faktoren dieser Sprache — Ton, Oberton, Intervall — enthalten sind. Aus eben diesem Grund hielt er auch das Klavier (neben Cembalo, Orgel, Harmonium) mit seiner gleichmäßig schwebenden Temperatur für das dem Zwölftonsystem angemessene Instrument, da auf dem Klavier jede beliebige Klangfarbe herstellbar ist, während die anderen Instrumente jeweils ihre „spezifische Klangfarbe quasi als „materielle Verschmutzung“ mit ins Spiel bringen. Hauer wollte aber die Musik gerade von ihrem materiellen, vergegenständlichten, „thematischen“ Charakter reinigen, den sie in der Neuzeit (nach Dacha „Wohltemperiertem Klavier“) angenommen hatte und dessen negativen Gipfelpunkt er in der Musik Richard Wagners sah.

Das Zwölftonsystem mit seinen 479.001.600 Variationsmöglichkeiten gegenüber nur 5040 des tonalen Systems schien ihm besonders geeignet, die Musik von jeder außermusikali-

schen Expressivität zu befreien und sie gemäß ihrer eigenen klanglichen Strukturen zu entfalten. Dieses Bemühen um die Reinheit musikalischer Strukturen läßt sich schon an Hauers frühen Kompositionen (darunter Lieder, Kammermusik, Orchesterwerke, die Opern „Salambo“ und „Die schwarze Spinne“) feststellen. Hauers eigentliche musikalische Leistung ist jedoch das Zwölftonspiel. Das Zwölftonspiel basiert natürlich auch auf den 479.001.600 Variationsmöglichkeiten der Zwölftonreihe, in die Hauer jedoch zusätzliche Organisationsprinzipien, im besonderen die von ihm ausgearbeiteten 44 Tropen, einführt.

Bei den Tropen handelt es sich um bestimmte Konstellationen von Zwölftonreihen in jeweils zwei Hexachorden. Aus diesen zwei komplementären Sechstongruppen wird mittels fortschreitender Tonvertau-schung der Zwölftonraum entwickelt. Erstaunlich sind die außerordentlich reichen Symmetrieeigenschaften, über welche die 44 Tropen verfügen. Man teilt sie nach ihrer morphologischen Anordnung in neun poly-zen-tralsymmetrische mit deckungsgleichen Hälften, in zwölf mono-axial-symmetrisehe, die nur eine Symmetrieachse aufweisen, in sieben endo-symmetrische mit symmetrischen Tropenbildern bei ungleichen Hälften und in 16 exosymmetrische Tropen ein, welche bei völliger Asymmetrie der einzelnen Trope ein axialsymmetrisches Verhältnis zu einer

zweiten Trope aufweisen. Die Tropen ordnen die 479.001.600 Möglichkeiten der Zyklenbildung in Form von 44 Grundtypen. Zusätzlich stellt Hauer noch ein System von Harmonisierungsregeln auf, welches eine reiche plastische Entwicklung der durch die Trope gewonnenen Zwölftonmelodie erlaubt.

Dieses von Hauer ausgearbeitete Codesystem ist rigoros deterministisch. Auf das Zwölftonsystem angewendet, produziert es automatisch eine mannigfaltige Abfolge von Abwandlungsmöglichkeiten. Eine Idee, ein individueller „Schöpfungsakt“, ist für diese Musik nicht nötig, sie schreibt sich sozusagen von selbst. Die individuelle schöpferische Tätigkeit des Hörers oder Ausführenden des Zwölftonspiels besteht in der Deutung der einzelnen Tongebärden, des Melos, wie Hauer sagt.

Jede Tongebärde kann aufgefaßt werden als die bestimmte Menge aller semantischen Bezüge, welche dieselbe Form haben. Diesen „Modellcharakter“ der Tongebärde zu erkennen und sie mit den entsprechend strukturierten Sachverhalten unserer biologischen, psychischen, sozialen Umgebung anzureichern, ist demnach Aufgabe des Hörers. Die Vielfalt der zur Verfügung stehenden musikalischen Gesten erlaubt es, reiche semantische Felder einzubezie-hen und sie in harmonische Übereinstimmung zu bringen. Allerdings sollte man diesen Vorgang nicht mit der Produktion von gegenständlichen Assoziationen verwechseln, wie sie das menschliche Gehirn laufend auf Grund verschiedenster äußerer (auch musikalischer) Anstöße durchziehen. Es handelt sich dabei im Gegenteil um einen Erkenntnisprozeß, der auf dem Bewußtwerden formaler Parallelen beruht und das Individuum zur Harmonie mit sich sich selbst und seiner Umwelt führen soll — das Hören des Zwölftonspiels impliziert einen moralischen Effekt.

Das Tonuniversum des Zwölftonspiels beruht auf der konventionell gewonnenen Tastatur des Klaviers. Andere Tonuniversen, etwa elektronischer Natur, können ebensogut angenommen werden. Das Argument, daß die Intervalle der Zwölftonreihe dem menschlichen Ohr entsprechen und ihm am meisten Information liefern, läßt Hauers musikalische Kos-mogonie als extrem anthropozentrisch erscheinen. Vorstellbar sind nicht nur andere Tonuniversen, sondern auch weicher determinierte Codesysteme, deren Axiomatik eine Entwicklungsfähigkeit ihrer selbst und damit eine gewisse Offenheit beinhaltet. Das Zwölftonspiel sollte nicht als allgemeingültiger Ausdruck der kosmischen Gesetze mißverstanden oder abgelehnt werden, sondern als hochinteressanter, gedankenvoller Interpretationsversuch in unser Denken einbezogen werden.

Hauers musikalisches Weltbild, im Ausland längst in seiner Eigenart akzeptiert, führt in Österreich ein Schattendasein. Die Gedächtnisausstellung in Wiener Neustadt trug durch ihr graphisches und musikalisches Demonstrationsmaterial wesentlich zum Verständnis dieses Weltbildes bei. Eine Überführung der Ausstellung nach Wien, etwa zu den Festwochen, wäre wünschenswert.

Hier soll noch auf einige Fakten hingewiesen werden, die mit Hauers Wirken in Zusammenhang stehen: sowohl Hauers Geburtshaus in Wiener Neustadt, Langegasse 23, ein Barockhaus aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie auch Hauers Wohnhaus in Wien VIII, Bennogasse 2, ein Biedermeierhaus, wurden dem Verfall preisgegeben und sind vom Abbruch bedroht. Es ist an sich schon trist, wenn man sich dem ' kulturellen Erbe unseres Landes in seiner baulichen Form mit der Spitzhacke nähert, statt es behutsam zu erhalten und zu pflegen. Doppelt ärgerlich ist es, wenn Orte, welche als Wirkungsstätten schöpferischer Menschen eine besondere Bedeutung angenommen haben, ausgelöscht werden sollen. Das Hausbesitzer profitbewußt sind, ist ganz natürlich. Es ist daher Sache der Gemeinschaft, hier bewahrend einzugreifen.

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