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„Aus der Physis bafft viel ins Bewußtsein"

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Kurz vor seinem Geburtstag 1989, der zum letzten Mal gemeinsam gefeiert werden sollte, erschreckte György Sebestyen mit der makabren Überlegung, daß es doch für die Nachwelt sehr praktisch sein würde, wenn man „runde" Lebensdaten hinterließe: György Sebestyen, geboren 1930, gestorben 1990! Die abwehrende Mahnung, nur ja nicht Geister zu rufen, die man nicht mehr loswürde, half wenig. Wer, wie Sebestyen, eine Eigendynamik irrationaler Kräfte im Menschen für möglich hält, war nach seinem Tod am 6. Juni 1990 versucht, nicht nur die rational plausible Erklärung seiner „Prophezeiung" gelten zu lassen, daß eben Befürchtungen aus dem schon damals Schwerkranken gesprochen hätten. Sollte da nicht womöglich doch konkrete Vorahnung und gar aktive Annahme eines zwar unerklärbaren, aber unvermeidlichen Geschicks wirksam geworden sein, ein Sich-Fügen-Wollen in die komplexe Ordnung eines größeren Ganzen, ins Wechselspiel von Werden und Vergehen? Wir werden es nie erfahren. Sebestyens Haltung zu diesen Fragen indessen wird aus einem vor fünf Jahren, im Sommer 1987 aufgezeichneten Gespräch deutlich.

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Kurz vor seinem Geburtstag 1989, der zum letzten Mal gemeinsam gefeiert werden sollte, erschreckte György Sebestyen mit der makabren Überlegung, daß es doch für die Nachwelt sehr praktisch sein würde, wenn man „runde" Lebensdaten hinterließe: György Sebestyen, geboren 1930, gestorben 1990! Die abwehrende Mahnung, nur ja nicht Geister zu rufen, die man nicht mehr loswürde, half wenig. Wer, wie Sebestyen, eine Eigendynamik irrationaler Kräfte im Menschen für möglich hält, war nach seinem Tod am 6. Juni 1990 versucht, nicht nur die rational plausible Erklärung seiner „Prophezeiung" gelten zu lassen, daß eben Befürchtungen aus dem schon damals Schwerkranken gesprochen hätten. Sollte da nicht womöglich doch konkrete Vorahnung und gar aktive Annahme eines zwar unerklärbaren, aber unvermeidlichen Geschicks wirksam geworden sein, ein Sich-Fügen-Wollen in die komplexe Ordnung eines größeren Ganzen, ins Wechselspiel von Werden und Vergehen? Wir werden es nie erfahren. Sebestyens Haltung zu diesen Fragen indessen wird aus einem vor fünf Jahren, im Sommer 1987 aufgezeichneten Gespräch deutlich.

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FURCHE: Sie verwenden oft die Begriffe „ rational "und,, irrational". Verbinden Sie damit irgendwelche Wertungen, sehen Sie Irrationales etwa als negativ an?

GYÖRGY SEBESTYEN: Nein. Ich meine, daß es mindestens zwei Kategorien in der Schöpfung gibt, die ich mit den Worten „rational" und „irrational" bezeichne; gehen wir davon aus, daß das Universum einer ganz bestimmten Ordnung unterliegt, es hat eine Form; diese Form kann natürlich unendlich sein im Raum und auch in der Zeit (ich habe das sehr früh gelernt bei der Lektüre von Marc Aurel), dennoch herrschen ganz bestimmte Prinzipien, die bis ins Kleinste wirken -vom Größten bis zum Kleinsten, das ist ein kompliziertes System. In diesem System gibt es eine Kategorie A, in der sowohl die Art und Weise des Existierens wie auch die Art und Weise des Erkennens nicht-rationalen Modellen folgt, denn wir haben als Menschen eine Menge emotionaler Regungen: unvernünftig, irrational, auch mit Vernunftgründen nicht erklärbar.

Ich meine das so einfach, daß der Mensch eben auch eine Physis hat, und aus dieser bafft sehr viel empor ins Bewußtsein, das kräftig ist: das sind unsere Träume, das ist Angst, das sind natürlich weite Teile des erotischen Existierens, das ist Zorn, alle möglichen Aggressionen, Schadenfreude, das ist viel Böses; Lust am Morden, das ist auch die jedem Ethnologen bekannte Tatsache, daß das Auslöschen anderen Lebens das eigene Leben stärker fühlen läßt unter gewissen Umständen... All diese Phänomene kann ich nicht als rational bezeichnen, die nenn' ich irrational.

FURCHE: Also ganz wertneutral: im Gegensatz zum Rational-Berechenbaren stehtfür Sie das Nicht-Rationale, Unberechenbare?

SEBESTYEN: Ja. Das ist das Eine - objektiv-irrational. Aber es gibt noch eine zweite Kategorie oder eigentlich Unter-Kategorie von Ereignissen, die vielleicht erklärbar sind, nur kann ich sie nicht erklären - sie stellen sich mir als „ohne Ratio" dar. Zum Beispiel: ich gehe in eine Gesellschaft, in der sind mir zwei Leute gleich sehr sympathisch, zwei andere gleich sehr unsympathisch. Es mag sein, daß man in 200 Jahren das wird physisch erklären können, vielleicht so, daß der Organismus mit Schwachstrom arbeitet, daß also ganz bestimmte elektro-magneti-sche Erklärungsmodelle hier gefunden werden. Es muß nicht sein, daß es so kommt, aber es ist möglich. Es gibt so vieles, was die Menschen früher nicht erklären konnten, aber jetzt wissen sie's; wieder anderes bleibt vorerst unerklärbar, etwa Todesarten: wir wissen zwar heute, daß man sterben kann an Auszehrung, wir wissen auch die psychischen und physischen Gründe dafür; in der Krebs- oder Aidsforschung sind wir nicht so weit. Das heißt: ganz bestimmte Erscheinungen, die wir auch heute noch für ein unerklärliches Geheimnis halten und zum Irrationalen zählen, gehören vielleicht gar nicht dazu, sie erscheinen uns nur so, bis wir es einmal besser wissen. In der magisch-mythischen Zeit war es ja mit sehr vielen Naturphänomenen so, die als übernatürlich gesehen wurden, als irrational, weil man sie nicht verstand. Heute sehen wir sie rational, weil wir mehr über ihr Wesen wissen.

Aber die Aufklärung hat unser Denken derart beeinflußt, daß sie uns lehrte, das Nicht-Rationale gar nicht zu beachten, als nicht existent zu betrachten. Alles was mit der Vernunft nicht beherrschbar ist, ist zu verdrängen, deshalb ist der Tod zu verdrängen. Dem entspricht der bekannte Satz von Galileo (die Aufklärung wurzelt 'natürlich schon in der Renaissance): wir müssen alles messen und das noch nicht Meßbare meßbar machen. Ich meine aber, es gibt Dinge, die nie meßbar sein werden: wirkönnenmicht die kollektive Emotionsbeladenheit zum Beispiel der Nationalsozialistischen Bewegung messen, weil sie jeden Augenblick anders ist, weil sie mit dem Auftritt eines charismatischen Führers zunehmen wird, mit seinem Abtritt abnehmen... all die Faktoren, die hier wirksam sind, zu übersehen und aufzuschreiben, das ist unmöglich. Es geht dabei um ein Gewebe von soziologischen und psychischen Faktoren, um Traditionen, um physische Verfassung wie Sattheit oder Mangel, um Politik und so weiter.

FURCHE: Wäre dies aber dann nicht nur ein quantitatives Problem?

SEBESTYEN: Ich meine: Nein. Die Menschenmassen sind nie auf einen Nenner zu bringen und das ist der Irrturn der Marxisten; daß jedes Individuum diese verallgemeinernden Merkmale aufweist (etwa, es gehört zur Arbeiterklasse, ist 35 Jahre alt und evangelisch), dies sagt zu wenig über die Wirklichkeit, es genügt nicht zur Wirklichkeitsbeschreibung.

So ist auch das schöne dialektische Gesetz, daß die Quantität an einem bestimmten Punkt in eine neue Qualität überginge, glaube ich, richtig -aber, es ist kein rationales! Denn: wann beginnt der Mob zu morden? Manches beginnt als Wirtshausrauferei, entwickelt eine eigene Dynamik und plötzlich brennen ganze Straßen... das soll mir einer rational erklären, das kann man nicht. Und so ist es im Privatleben auch. Warum mache ich viele Dinge, die mir von Vorteil sind, nicht? Wohl möglich: ich geniere mich, das ist meine Erziehung, ich bin faul, das ist Trägheit... gut. Es gibt aber auch noch anderes, das kann ich nicht erklären - wie vorher die Sympathie oder Antipathie. Das alles ist irrational.

Das Problem des Irrationalen, besonders im Hinblick auf die beiden verhängnisvollsten Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, den Kommunismus und den Faschismus, wurde von Sebestyen ein letztes Mal dichterisch gestaltet im nachgelassenen Romanfragment.aus dem in der FURCHE bereits einige Textproben gegeben werden konnten; in Kürze sind die Vorbereitungen zu dessen Edition beendet, es wird 1993 erscheinen.

Aufzeichnung eines Gesprächs von Helga Blaschek-Hahn mit György Sebestyen.

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