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Brüssel unter Erfolgsdruck

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Ziemlich genau 1.000 Tage sind es noch, bis am 31. Dezember 1992 alle geplanten Maßnahmen zur Vollendung des Europäischen Bin- nenmarktes verwirklicht sein sol- len. Alle inneren Grenzen, Han- delsbarrieren und sonstigen Vor- schriften, die die freie und unbe- hinderte Bewegung von Waren, Personen, Kapital und Dienstlei- stungen beeinträchtigen könnten, werden dann beseitigt sein. Ist die- ser Zeitplan einzuhalten?

Offiziell wird Optimismus ver- breitet: Zwei Drittel der erforderli- chen Richtlinien und Verordnun- gen sind vom Ministerrat bereits verabschiedet, Teile davon auch in nationales Recht der Mitglieder gegossen. Das restliche Drittel wird 1990 und 1991 den Rat passieren, um den einzelnen Parlamenten noch Zeit zu geben, die Vorlagen zu behandeln, heißt es.

In diesem Drittel lauern jedoch unangenehme und konfliktträch- tige Probleme. Selbst wenn es ge- lingen sollte, diese in den nächsten zwei Jahren über die Bühne zu bringen, genügt die Ablehnung eines bestimmten Gesetzesentwurfs durch ein nationales Parlament, und die Marschtabelle platzt. Dann ist, angefangen von EG-Kommis- sion und Ministerrat, die gesamte Angelegenheit neu zu verhandeln. Und das dauert. Ein solches Ereig- nis ist nicht auszuschließen.

Die Freiheit des Warenverkehrs macht den wenigsten Kummer. Ganz anders sieht es aber beim Personenverkehr aus. Es gilt als sicher, "daß sich hier einzelne Län- der Vorbehalte und Beschränkun- gen ausbedingen werden. Wande- rungsbewegungen wird es jeden- falls solange geben, wie es größere Lohndifferenzen gibt, und solange die Harmonisierung der Sozialge- setzgebung in den Mitgliedsländern nicht befriedigend gelöst ist. Hier- bei existieren knifflige Detailpro- bleme. Etwa die Frage des sozialen Dumpings oder die Möglichkeit, daß Unternehmen aus sozial weniger entwickelten Ländern zu den in ihrer Heimat geltenden schlechten Bedingungen in höher entwickel- ten Ländern Aufträge ausführen und damit die dort geltenden Be- stimmungen ad absurdum führen.

Der Sozialbereich wird sicher- lich zu einer Zerreißprobe für den Zusammenhalt der EG-Länder. Eine Harmonisierung der Sozial- gesetze kann es nur geben, wenn dies für die ärmeren Teilnehmer finanzierbar bleibt. Eine Anglei- chung ist aber nur über einen mehr- jährigen Anpassungsprozeß vor- stellbar, nicht durch Verordnung aus Brüssel. Apropos Wanderun- gen: Die Entfernung aller Grenz- formalitäten weckt bei den Sicher- heitsexperten großes Unbehagen. Werden nicht andere Kontrollmög- lichkeiten eingeführt, fürchtet man ein Anwachsen der grenzüber- schreitenden Kriminalität oder Er- leichterungen im Transport von Drogen und gefährlichen Gütern. Zum Beispiel giftige Abfälle.

Keine Lösung zeichnet sich auch im^Bereich der Steuerharmonisie- rung ab. Gelingt sie nicht, werden auch unterschiedliche Steuersyste- me Ursachen für möglicherweise unerwünschte und kontraproduk- tive Wanderungen, Produktions- verlagerungen und Verschiebungen sein. Bei der Mehrwertsteuer bei- spielsweise konnte man sich noch nicht einmal über das Prinzip (Ur- sprungs- oder Bestimmungsland- besteuerung) einigen.

Das Projekt einer EG-einheitli- chen Quellensteuer wurde im Som- mer des Vorjahres von der Bundes- republik erfolgreich torpediert. Ein Amtshilfe-Abkommen gegen Steu- erflucht konnte gleichfalls nicht erzielt werden, weil einige Länder dadurch Bestimmungen über ihr Bankgeheimnis verletzt sahen.

Aus dem langen Katalog offener Fragen seien nur stichwortartig auf- gezählt: Es fehlen brauchbare An- sätze zu einer gemeinsamen Um- weltpolitik. Keinen Durchbruch gibt es auch in der Frage eines gemeinsamen Kartellrechts: Wie will man verhindern, daß ganz im Gegensatz zur Idee des wettbe- werbsfördernden Binnenmarktes riesige marktbeherrschende Unter- nehmen entstehen?

Im Bereich des freien Kapital- verkehrs wurden zwar Fortschritte erzielt, doch führt dies immer mehr zur Frage einer gemeinsamen Geld- und Währungspolitik,die noch auf sich warten lassen wird.

Gewiß würde niemand Termin- überschreitungen übelnehmen, wenn brauchbare Lösungen für eine gute Sache gefunden werden. Die grundsätzliche Skepsis am Binnen- markt nimmt jedoch zu.Die südli- chen Partnerländer befürchten eine zunehmende Konzentration von Macht und Wohlstand in den Indu- striezentren des Nordens. Die EG- Strukturfonds reichen trotz wach- sender Dotierung für eine einiger- maßen wirksame Regionalpolitik bei weitem nicht aus.

Nicht unterschätzt werden darf schließlich die Sprengkraft der deutschen Wiedervereinigung. Das mühsam ausbalancierte Gleichge- wicht in den EG-Gremien wird möglicherweise in einem für die Partner nicht mehr akzeptablen Maß gestört.

Wie tot ist also der Binnenmarkt? Ziemlich sicher ist, daß er im Jahr 1993 noch nicht am Leben sein wird, zumindest nicht in der geplanten Form. Wann er geboren und welche Entwicklungsmöglichkeiten er dann vor sich haben wird, hängt davon ab, in welchem Maße die Brüsseler Bürokratie Flexibilität und alle Beteiligten Kompromiß- bereitschaft zeigen.

Der Autor ist volkswirtschaftlicher Experte in der Nationalbank.

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