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Der Dialekt als Heilmittel Hilfe für Häftlinge

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In Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten als weitgehend geschlossene Institutionen müssen Menschen auf relativ engem Raum miteinander leben und auskommen. Daß es dabei zur Ausbildung von Eigengesetzlichkeiten und letztlich zur Entstehung von Subkulturen kommt ist bekannt und ergibt sich zwangsläufig aus den gegebenen Verhältnissen. Diese Subkulturen haben nun ganz spezifische Kommunikationsmittel entwickelt. Eines der menschlichsten davon ist die Sprache.

Dabei unterscheiden sich aber Gefängnis und psychiatrische Anstalt sehr wesentlich voneinander. Während hinter Kerkermauern eine eigene Geheimsprache - Rotwelsch, Gauneroder Galeristensprache - verwendet 1 wird, ist in den meisten traditionellen j „Psychiatrischen“ wiederum ein aus-1 gesprochenes Sprachmanko festzu- i stellen. Beide Extreme tragen nach i Ansicht von Fachleuten aber dazu bei, i das angestrebte Ziel - Entlassung und < Resozialisierung - in Frage zu stellen. ] Denn einerseits ist mit dem Slang der 1 Unterwelt im „normalen“ Leben nicht ] viel anzufangen, und anderseits sind psychisch Kranke einfach sprechent- ' wohnt:

Diesen künstlichen und verkruste- ] ten Zustand in derartigen „Sprach- j Enklaven“, die sicherlich unter einem ! deutlichen Kommunikationsmangel l „nach außen“ leiden, will der Psychia- ] ter Dr. Willibald Sluga (Psychiatrische ] Universitätsklinik Wien) nun durch i den Einsatz des lebendigen Dialekts j aufbrechen.j

„Während wir in den Gefängnissen versuchen müssen, die Substanz der 1 Sprache zu verändern, müssen wir uns i in den psychiatrischen Anstalten be- ] mühen, die Substanz der Sprache : überhaupt zu vermehren“, betont der ] Wissenschafter. Obwohl heute der i Wert der Gesprächstherapie allgemein : anerkannt ist, wird dieses Instrument i in der Praxis noch viel zu wenig einge- i setzt. Und die Frage nach dem Befin- ; den („Na, wie geht's Ihnen denn heute?“) bei der täglichen Visite sowie einige in Hochsprache oder gar im Lateinischen mehr den Kollegen hingeworfenen Wortbrocken sind als Kommunikation Patient-Arzt eindeutig zu wenig. „Es wird daher auch von Seiten der Mediziner eine gewisse Uberwindung zum Dialekt notwendig sein“, unterstreicht Dr. Sluga.

Ähnliches gilt natürlich auch für das Gefängnispersonal. „Im Gegensatz zu dem derzeit meist üblichen Befehlston in den Strafanstalten ist die Verwendung des Dialekts im etwas persönlicheren Sprechverkehr noch lange nicht als Fraternisierung mit den Exponenten der Subkultur zu betrachten.“ Außerdem wird dem Gefängnisinsassen, der jahrelang faktisch nichts anderes als den gängigen Galeristen-Ton gehört hat, auch der Wiedereintritt ins Leben „draußen“ erleichtert, wenn er den Dialekt quasi als Ubergangslösung zur Hochsprache hören und vor allem gebrauchen lernt.

Soweit der gedankliche Ansatz, die Theorie. Wie will man aber in der Praxis mehr Dialekt in diese Sprach-En-klaven bringen? Dr. Sluga denkt dabei auch an Dialektlesungen oder -hör-spiele, mit denen man „Hefenbrüder“' und psychisch Kranke regelmäßig konfrontieren könnte. „Bis jetzt weiß niemand, wie das wirkt oder was in diesen Sprach-Enklaven überhaupt gesprochen wird und wieviel an Sprachsubstanz vorhanden ist.“

Erste Versuche mit dem Dialekt als Therapie haben an der Sonderstrafanstalt am Mittersteig in Wien im Rahmen einer Aktion „Psychodrama“ bereits gute Erfolge gebracht. Dabei sollen Häftlinge aus dem Stegreif Situationen vorspielen, wie sie sie später nach ihrer Entlassung antreffen werden: die Rückkehr zu Frau und Kind, die Vorsprache am Arbeitsplatz, die Suche nach neuer Arbeit und ähnliches. „Für dieses soziale Trainingsfeld ist der lebendige Dialekt das einzig mögliche Ausdrucksmittel“, weiß der Psychiater aus der Praxis zu berichten.

Wieder anders liegt die Situation bei psychisch Kranken, die auf ihre Rückkehr ins tägliche Leben vorbereitet werden sollen. „Hier sehe ich den Dialekt als ausgezeichnete Trainingsmöglichkeit für den Patienten an, die normale Expression überhaupt wieder zu erlernen, sich daran zu gewöhnen, über Probleme, die ihn bewegen, zu sprechen“, betont Dr. Sluga.

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