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Die Gemeinsamkeit fehlt

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Punkt elf Uhr versammelt sich das Hohe Haus im ehrwürdigen Reichsratssaal des Parlaments. Voll Spannung erwarte ich meine erste Live-Sitzung im österreichischen Nationalrat.

Nach zweistündiger Unterbrechung wird dann endlich die Dringliche Anfrage verlesen.

Die Begründung durch ÖVP-Ob-mann Alois Mock gelingt eindrucksvoll: gut vorbereitet, perfekt einstudiert; auch der Szenenapplaus klappt vorzüglich. Selbst der Inhalt erweckt einen guten ersten Eindruck von unserer Volksvertretung.

Natürlich fallen auch härtere Worte, die einem SPÖ-Abgeordne-ten wohl kaum gefallen. Aber kein einziger Zwischenruf. Ist das vom Fernsehen so oft vermittelte Bild von Schreiduellen also doch nur Meinungsmanipulation?

Aber dann werde ich erstmals stutzig: Mock ruft zur Unterstützung der streikenden Arbeiter in Polen auf. Demonstrativer Applaus von den ÖVP-Bänken - aber Stille auf der anderen Seite! Das verstehe ich nicht.

Aber dann: Der erste Redner der Regierungspartei, ihr Klubobmann Heinz Fischer, beginnt auch seine Ausführungen mit einem Solidaritätsappell für die streikenden Polen. Applaus von der linken Saalhälfte. Nur zwei, drei wackere ÖVP-Man-datare in der letzten Reihe klatschen zaudernd mit.

Dürfen denn die Abgeordneten nicht einmal, wenn sie mit einem Redner der Gegenseite einer Meinung sind, dies kundtun? Brauchen sie unbedingt eine Regieanweisung?

Und noch ein Satz in der Fischer-Rede trübt den guten ersten Eindruck: „ ... brauchen sich die SP-Abgeordneten vor der ÖVP nicht zu genieren". Ist denn hier die Opposition Maßstab aller Dinge? Soll denn nicht der Eindruck auf die Bevölkerung, die die Herren und Damen Abgeordneten zu vertreten haben, oberstes Gebot sein?

Auf ähnlicher Ebene geht es weiter: Statt der erhofften Einsicht, daß der politischen Moral doch wieder zu ihrem Recht verholfen werden muß, wird fleißig Skandal um Skandal aufgerechnet: Müllner gegen Olah, Bauskandal 1966 gegen AKH-Skandal 1980. Denn kritisieren dürfe ja hier niemand mehr, jeder hätte vor seiner eigenen Tür zu kehren. Man spricht viel über Vergangenes, aber wenig wie man künftig weitere Unregelmäßigkeiten verhindern kann.

Auch der von der ÖVP geplante Höhepunkt dieser Sondersitzung, die Sache mit der Androsch-Bürg-schaft, ist eine Enttäuschung: Wenn man sich schon entschlossen hat, ein solches Dokument zu präsentieren, dann bitte mit Uberzeugung. Oder aber man läßt es lieber bleiben.

Die Reaktion der SPÖ-Seite war bezeichnend: In die erst so friedlichen Reihen kam Leben; gut eingeübte Schreiszenen wechselten mit echter Empörung.

Hier war auch Erfreuliches zu verzeichnen: SPÖ-Klubobmann Fischer hat zwar den ÖVP-Abge-ordneten Heribert Steinbauer beschimpft, sich aber später entschuldigt - eine für den Normalbürger zwar selbstverständliche, aber in diesem Rahmen offenbar beeindruckende Geste.

Wie sieht nun die Bilanz meiner Parlamentspremiere aus?

Wenn unsere Volksvertreter nicht einmal gemeinsam für die Unterstützung der streikenden Polen applaudieren, wie sollen sie dann gemeinsam der politischen Moral wieder zum Durchbruch verhelfen?

Nach dem, was ich im Parlament gesehen, und was ich dort nicht gehört habe, nämlich die ernsthafte Behandlung grundsätzlicher Fragen, dürfen sich die Politiker nicht wundern, wenn die Jugend von „Schmattesstaat" spricht und den Wahlen fernbleibt.

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