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Die Kalabreser-Revolte

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Das Ultimatum des stellvertretenden Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Italiens, Berlinguer, an die Adresse der Regierung Colombo, „zur Verteidigung der demokratischen Ordnung einzugreifen, widrigenfalls die antifaschistisdien Kräfte des Volkes nach dem Rechten sehen würden”, ließ Italiens politische öfEentlichkeit aufhorchen. Handelte es sich abermals nur um einen propagandistischen Akt, geht es dem ungekrönten König der KPI wirklich um die Hafenstadt am Stiefelabsatz der Apenninenhalb-insel, oder, darüber hinaus, um das ganze Land?

Jähes Erwachen

Seit vielen Tagen ist Reggio Calahrla weitgehend lahmgelegt. Jeden Tag kommt es aufs Neue zu einem Kleinkrieg zwischen Demonstranten und Carablnieri. Barrikaden werden er-rlditet, von den Uniformierten immer wieder zerstört, da und dort explodiert ein Molotow-Cocktail. Die Hüter der öffenüichen Ordnung antworten mit Haussudiungen, die von ihren Widersachern als ..Ubergriffe des Staates” gebrandmarkt werden. Heereseinheiten, die vorderhand noch außerhalb der Stadt stationiert sind, haben den Auftrag, für eine ordnungsgemäße Abwicklung des Eisenbahnverkehrs von und nadi Sizilien zu sorgen.

Wie im Juni, Juli und Oktober 1970, ist die Lage in der kalabresisdien Hafenstadt wieder chaotisch, wobei man heute, angesidits der „vierten Revolution von Reggio”, um eine Illusion ärmer ist. Colombos Kabinett meinte vor vier Monaten, mit der Zusicherung, in der Nähe von Reggio das größte Stahlwerk des Südens zu erriditen, die Bewohner der Stadt darüber hinwegtrösten zu können, daß die Regionalverwaltung nadi Catanzaro verlegt wird. Die Politik des Versprechens und Tröstens erlitt Schiffbruch, wobei sie vielleddit schon voriier zum Scheitern verurteilt gewesen war.

Wenn es um die Wahrung ihrer alten Vorrechte geht, sind rechtsextrem eingestellte „Lokalbonzen” keineswegs an einer Erneuerung interessiert und versuchen, sich mit Sdimiergeldem und anderen Druckmitteln möglichst \-iele Leute gefügig zu machen. Solthe Machenschaften riefen die Linlcsextremen und viele andere Unzufriedene auf den Plan und vergiften eine längst verpestete Atmosphäre noch mehr. Nachdem die Partelen links von der Mitte in Cagliari auseinandergegangen sind, versucht eine Zweier-Koalition der Christlichdemokraten und Linkssozialisten die Regionalverwaltung zu bilden. Dem entschiedenen Widerstand der Sozialdemokraten und Republikaner begegnete die Demoorazia Crlstiana mit einer nur aus Christlichd(»nnokraten zusammengesetzten Giunta, die aber praktisch nur von der Unterstützung der Linkssozialisten, Sozialproletarier und Kommunisten lebt. So wird die Regierungsformel das Centro sinistra sowohl in der Hauptstadt als auch an der Peripherie zur bloßen Phrase, was den Sozialdemokraten und republikanischen Koalitionspartnern immer weniger zugemutet werden kann. Dieser Tage findet in Rom der zweite Kongreß der Sozialdemokraten statt, die sich 1969 von den LinkssoziaUsten getrennt haben. Geben Saragats Gefolgsleute nicht länger nach, so wird es spätestens Mitte des Monats zu einer neuen Regierungskrise kommen.

Ob die Kommission für Verfassungsfragen des Abgeordnetenhauses gut beraten war, das Römer-Parlament für unzuständig zu erklären, um die Frage zu entscheiden, welche Stadt endgültig zum Hauptort der neugeschaffenen Region zu erklären sei, muß in dieser chaotischen Situation einstweilen dahingestellt bleiben. Die Bewohner von Reggio Calabria sehen sich jedenfalls durch diesen Beschluß von Rom verraten. Sollte der Regionalrat die Sache entscheiden.

so wird ohne weiteres Cantanzaro „dde große Ehre” (mitsamt den daraus resultierenden Pfründen und Einnahmen) zufallen. Denn in diesem Rat stellen die Befürworter einer Verlegung der Regionalämter nack Reggio Calabria lediglich eine kleine Minderheit dar.

Ein bedenkliches Vakuum

Auch In Rom ist die Situation chaotisch. Als es darum ging, für bereits vom Senat gutgeheißene Landwirtschaftsgesetze den Weg ins Abgeordnetenhaus zu ebnen, versuchten rechtsstehende Christlichdemokraten und die Sozialdemokraten mit dem Entwurf die Regierung zu Fall zu bringen. Dabei halfen Sozialproletarier und Kommunisten zu einer Mehrheit. Daß die Linksextremisten einem vom Linksmdtte-Kablnett ausgearbeiteten Gesetzesentwurf in höchster Not zx Hilfe eilten, während Strömungen der Regierungskoalition bedenkenlos eigene Wege gingen, wirft die Frage auf, ob Italien wirklich noch eine tragfähige Regierung besitzt und nicht bereits hintenherum die imbeschränkte Linksöffnung, also Aufnahme der KPI in die Regierung, bewerkstelligt wurde.

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