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Neue Phase des Dialogs zwischen Kirche und Staat?

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Steht im Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Ungarn eine entscheidende Wende bevor? Eine Diskussion, die sich zwischen dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten György Aczel in der atheistischen Zeitschrift „Vila- gosag“ und dem Sekretär der ungarischen Bischofskonferenz, Bischof Cserhati von Fünfkirchen (Pécs), in der (in einer Auflage von 120.000 erscheinenden) katholischen Monatszeitschrift „Vigilia“ abspielt, zeigt nach Ansicht von Beobachtern sensationelle Züge. Dabei wird vor allem der Passus Aczels hervorgehoben, die entscheidende Voraussetzung für einen Dialog zwischen Christen und Marxisten und die gemeinsame Arbeit für das „sozialistische“ Gemeinwohl sei „die Gewährleistung des Prinzips der Gewissensfreiheit“, das nichts mit einer demoralisierenden ideologischen Gleichgültigkeit zu tun habe.

Aczel begann die Diskussion mit einem Aufsatz unter dem Titel „Der sozialistische Staat und die Kirchen in Ungarn“, in dem er betonte, die politische Führung Ungarns bekenne sich „im Zeichen der nationalen Einheit“ zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Demokratie. Diese „sozialistische“ Demokratie stelle jedoch nur dann eine echte Entwicklung dar, wenn sie allen Bürgern, auch den gläubigen, zugutekomme. Der Dialog zwischen Christen und Marxisten sei notwendig, betonte Aczel. Doch müsse das Notwendige auch möglich sein. Der Dialog könne nicht darauf zielen, die ideologischen Gegensätze abzubauen oder zu verwischen, sondern unter Respektierung der weltanschaulichen Divergenzen zu einer gemeinsamen Arbeit im Interesse des Landes zu gelangen. Marxisten und Christen, die „noch lange nebeneinander leben“ müßten, müßten auf diö gleichen Fragen derselben Welt Antwort geben.

Die Diskussionen im philosophischen, moralischen und politischen Bereich seien nicht mehr Diskussion von Feinden, sondern von Menschen, die einen gemeinsamen Weg gehen, fuhr der Politiker fort. Für den Marxisten könne die Diskussion von Weltanschauungsfragen nur „durch Verbreitung und Konfrontation von Ideen, nicht durch Gewalt“ erfolgen. Das Hören auf die Argumente des ändern führe zur gegenseitigen Bereicherung und zu fundierten Entscheidungen. „Bed ingung einer solchen Demokratie ist die Freiheit der Gedanken, also auch der persönlichen und institutionellen Religiosität und des Glaubens“, schloß Aczel.

Bischof Cserhati wertet in seiner

Antwort in der „Vigilia“ die Ausführungen Aczels als „Überraschung auch für jene, die aus der Logik der Geschehnisse schon wußten, daß man sich auch auf höchster Ebene mit der Analyse des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche und mit der Auswirkung dieses Verhältnisses auf das praktische Leben beschäftigte“.

„Zu neuem Aufbruch“

Aczels Ausführungen zielten darauf ab, Verantwortungsbewußtsein und Selbstkritik bei allen jenen zu wecken, die an der Lösung der kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben des Volkes teilnehmen, schreibt der Bischof. Sie seien aber gleichzeitig auch ein Aufruf an die Kirche: „Laßt uns alle von Neuem aufbrechen, laßt uns zusammen die Möglichkeiten, die Bedingungen und die Ziele der Lösungen suchen!“ In Aczels Darlegungen werde der geistige Wandel der Ära Johannes XXIII. und des Zweiten Vatikanischen Konzüs gewürdigt und anerkannt, daß es in der ungarischen Vergangenheit immer wieder gläubige Menschen gegeben habe, die aus ihrer religiösen Überzeugung heraus im Kampf um Fortschritt und Gerechtigkeit in vorderster Front gestanden seien.

Dennoch seien Aczels Ausführungen nicht ausreichend, da er wohl die Beiträge religiöser Menschen zum Gemeinwohl werte, nicht aber die Bedeutung der Religion selbst. Das sei aber für den religiösen Menschen eine unangenehme Unterscheidung, betont der Bischof.

Es gebe auch in Ungarn Stimmen, die das Zusammenwirken mit Marxisten, die einen atheistischen und materialistischen Staat anstreben, als Risiko und Gefahr für den Glauben an- sehen. Diese Gefahr sei nicht zu leugnen. Das christliche Zeugnis für das Evangelium in der Welt sei aber immer mit Versuchung und Risiko verbunden. Er habe absolutes Vertrauen in die auch heute noch wirksame geistige und ethische Energie des Christentums, betonte Cserhati, das 2000 Jahre hindurch europäische Geschichte geformt habe. Es habe auch in der derzeitigen geschichtlichen Situation seine Berufung zu erfüllen.

Die Gläubigen seien selbstbewußt und wüßten, wo im Dialog mit den Marxisten die Grenzen liegen. Auf ideologischem Gebiet gebe es eine unüberschreitbare Grenzlinie. Gemeinsamkeiten bestünden jedoch im Kampf gegen Unterdrückung und

Ausbeutung, im Bemühen um Gleich berechtigung und soziale Gerechtigkeit sowie im Eintreten für den Frieden. Das Einvernehmen könnte aber auch auf das kulturelle Gebiet wie auf die gemeinsame Betonung und Sicherung der grundlegenden sittlichen Normet) ausgedehnt werden.

Cserhati,erinnert daran, daß Partei und Regierung bestrebt seiep, die Basis der Nationalen Volksfront zu -erweitern. Dieser oder jener, der bisher auch vor administrativen Maßnahmen gegen Gläubige nicht zurückgeschreckt habe, nehmen jetzt von Diskriminierungen Abstand. Die politische Führung habe eine reibungslose Abwicklung des Religionsunterrichts zugesagt, doch sei „zwischen oben und unten manches Mal ein Unterschied“ zu beobachten.

Abschließend betont der Bischof die Notwendigkeit einer entsprechenden kirchlichen Presse und einer für alle zugänglichen, auf die Fragen von heute abgestimmte Verkündigung. Die offenen Fragen müßten zwischen Kirche und Staat, zwischen Ungarn und dem Vatikan behandelt werden. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn dieser Dialog auf höchster Ebene auf die Beziehung und die Zusammenkunft von glaubenden und nichtglau- benden Bürgern erweitert würde.

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