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Nichts als nach-manipuliert!

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Die eben zitierte Feststellung des Chefredakteurs des „Forums“, Sprachrohr der Neuen Linken in Österreich, beweist einmal mehr, daß Revolutionen nicht „ausbrechen“, sondern gemacht werden. Ein wenig selbstbewußt hat Herr Nenning auf die Bewegung hingewiesen, die weiß, wie derlei „gemacht“ wird; ganz anders gemacht wird als bisher: Das Movement der Neuen Linken. Nach dem Anschlag auf das Bundesheer, für die Neue Linke Punkt des geringsten Widerstandes im Establishment, weiten sich die Absichten. Weiters: Das Zentrum des Bebens, das auch im Konßiktsfall 144 „die Geister scheidet“, liegt außerhalb Österreichs. In den USA, in der Bundesrepublik Deutschland. Und nicht zuletzt: Der Normalbürger, der, wienerisch gesagt, diese Bewegung bisher „nicht einmal ignoriert hat“, kann sie gar nicht wahrnehmen. Das kann anscheinend nur ein hochempfindlicher Seismograph. Ein Meinungsforscher. Die Meinungsforscher sagen es den Publizisten. Die Publizisten verstehen es, den Politikern die Flötentöne beizubringen ...

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Die eben zitierte Feststellung des Chefredakteurs des „Forums“, Sprachrohr der Neuen Linken in Österreich, beweist einmal mehr, daß Revolutionen nicht „ausbrechen“, sondern gemacht werden. Ein wenig selbstbewußt hat Herr Nenning auf die Bewegung hingewiesen, die weiß, wie derlei „gemacht“ wird; ganz anders gemacht wird als bisher: Das Movement der Neuen Linken. Nach dem Anschlag auf das Bundesheer, für die Neue Linke Punkt des geringsten Widerstandes im Establishment, weiten sich die Absichten. Weiters: Das Zentrum des Bebens, das auch im Konßiktsfall 144 „die Geister scheidet“, liegt außerhalb Österreichs. In den USA, in der Bundesrepublik Deutschland. Und nicht zuletzt: Der Normalbürger, der, wienerisch gesagt, diese Bewegung bisher „nicht einmal ignoriert hat“, kann sie gar nicht wahrnehmen. Das kann anscheinend nur ein hochempfindlicher Seismograph. Ein Meinungsforscher. Die Meinungsforscher sagen es den Publizisten. Die Publizisten verstehen es, den Politikern die Flötentöne beizubringen ...

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„Vor relativ wenigen Jahren hat jeder Politiker, der also doch so eine Art Seismograph für Erdbeben im Wählervolk ist, gesagt: Hände weg davon. Sinnlos. Wozu diese Diskussion? Das führt zu nichts. Und so weiter. Unterdessen hat sich also in der

Der eingangs gemachte Hinweis auf das, was sich „in relativ wenigen Jahren“ in der Welt ereignet hat, provoziert die Frage: und was ist aus dem damals hic et nunc Geforderten geworden? Damals wurde nach amerikanischem Vorbild die progressive Einstellung einer Politikers mit der Frage getestet, ob er die Rauschgiftphilosophie verstehe und ob er dafür sei, daß Gesetze, die dem Rauschgiftkonsum im Wege stehen, entschärft und beseitigt werden; heute werden in den USA eilends und mit einem Milliardenaufwand Maßnahmen ingang gesetzt, um den katastrophalen Auswirkungen des Rauschgiftmißbrauchs zu begegnen. Damals war die Legalisierung der Promiskuität, der Wahlfreiheit in den sexuellen Beziehungen, erste und populärste Forderung der „Revolution“; jetzt suchen Psychiater, und Soziologen nach neuen Motiven für den „Triebverzicht“. Damals war die Parole „Make love, not war“ Ausdruck einer „gewaltlosen Revolution“; jetzt muß Herbert Marcuse bestätigen, daß inwzischen die „Bru-talisierung der modernen Gesellschaft unbestreitbare Tatsache geworden ist. Damals wurde eine antiautoritäre Erziehung als Kern einer Bildungsideologie „von morgen“ herausgestellt; jetzt terrorisieren schon die inzwischen erwachsenen Schüler ihre autoritätsfeindlichen Lehrer dermaßen, daß diesen zuweilen buchstäblich das Herz bricht, wie es im Falle Theodor Adorno geschah. Damals glaubten junge Menschen jenen janus-gesichtigen Pilzschädeln, die die Macht des Estabblishments bekämpfen wollten; Cohn-Bendit hat inzwischen der Wahrheit die Ehre gegeben: diesen Kämpfern der sechziger Jahre ging es weniger um das Los der vom Establishment Ausge-

Welt einiges ereignet. Es sind Bewegungen da, die das ganz anders machen. Und die spiegeln sich auch im österreichischen Bereich wider.“

Günther Nenning im Pressegespräch über 144. FS 1 des ORF vom 21. Jänner 1972. beuteten, sondern um die Macht. Was uns — zumal in Österreich — zuletzt blieb, das ist jener schon unmodern gewordene „neueste“ Military-Look, mit dessen Stücken junge Österreicher andernorts unanbring-lich gewordene Lagerbestände auftragen.

Eine ganze Partei kriegt Bauchweh

Wie und womit reagiert eine Partei, ein Politiker nach Art eines Seismographen auf das politische Erdbeben, das den 144 wackelig macht? Man sollte glauben: mit dem Hirn, auf Grund des Gewissens. Vom Chefredakteur des „Forum“ erfuhren hunderttausende Österreicher, Fernsehzuschauer und Nicht-„Fo-rum“-Leser, wie die ÖVP in diesem Fall nicht mit dem Hirn, sondern mit dem Bauch reagiert. Während einer Diskussion in der Redaktion des „Forum“ sei dem Generalsekretär der ÖVP das Eingeständnis entschlüpft: der bisherige Standpunkt der ÖVP in der Frage des 144 sei ins Rutschen gekommen, die Partei habe „Bauchweh“. Indessen: der Generalsekretär hätte dieses Bauchweh in einer „sehr liebenswürdigen und sympathischen Weise“ zugegeben.

Wenn die ÖVP in politicis Bauchweh hat, dann ist das der politischen Linken in jedem Fall „sympathisch“. Besser, der Gegner hat Bauchweh als daß er nachdenkt und sich auf das Gewissen besinnt. Und dann: man bedenke — dieses Image! Die ÖVP schaut, wenn es nach Herrn Nenning ginge, aus wie ein Kavallerieregiment, das mit vollen Hosen angreift, nachdem der Oberst mit solchen Hosen aufgesessen ist. Leider gehört es zum Comment des ORF, in Diskussionen, wie jener über den 144, manchmal nur Vertreter der traditionellen und der Neuen Linken

(diesmal „Arbeiter-Zeitung“ und „Forum“) einzuladen, die Interpretation des Standpunktes der ÖVP aber ... zum Beispiel Herrn Nenning zu überlassen; oder: der Sprecherin der „Arbeiter-Zeitung“ die näheren Ausführungen betreffs Theologie und Abtreibung — in Abwesenheit des Vertreters einer Kirchenzeitung — einzuräumen.

Auf Dr. Herbert Kohlmaier, seit dem 4. Juni 1971 Generalsekretär der ÖVP, paßt nicht das von Herrn Nenning verbreitete Image. Er eignet sich auch nicht dazu, die Rolle eines Bauchwehkranken zu spielen. Der Generalsekretär hat fundiertes Wissen, Grundsätze und Zivilcourage. Das von ihm und seiner Partei gezeichnete Bild erweckt den verständlichen Verdacht, daß die ÖVP aus ihrer Stellung geschossen werden soll, bevor in der Öffentlichkeit nicht nur Meinungen erforscht, sondern Verstand, Gewissen und Verantwortlichkeit mit der Frage beschäftigt worden sind. Was würde man in den Reihen der politischen Linken wohl sagen, wenn die gleiche Manier in einer anderen Frage auf Leben und Tod, auf die Frage der Todesstrafe, angewendet werden würde. Oder: sollen in der Frage des 144 „irreale Autoritäten“ abgebaut und Reportagen einer „guten Sache“ nach-manipuliert werden, wie es Franz Kreuzer, Exchefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“ und jetzt Mann am „Schalthebel der Nachrichten des reformierten Fernsehens“, für richtig hält?

Pseudowissenschaft und Ideologien

Welche der bisher im Falle des 144 maßgebenden Kriterien wurden durch das oben erwähnte „Erdbeben“ wackelig? Im Common Sense ist nach wie vor unbestritten, daß Abtreibung ein Übel ist. Eine Legalisierung des Übels beseitigt das Übel nicht. Das Problem ist umstritten, auch in Kreisen der Wissenschaft; aber die Wissenschaft wird nicht jenen Politikern die Verantwortung abnehmen können, die nicht aus wissenschaftlicher, sondern aus ideologischen Gründen den Schwangerschaftsabbruch legalisieren möchten. Niemand, nicht einmal die „Arbeiter-Zeitung“, wird die Kirche aus einer Mitverantwortung abdrängen können, durch die Grenzen „zwischen leben und töten“ (Franz Kardinal König) verwischt werden. Wenn die Ära des neuen Gesundheitsministeriums in Österreich eingeleitet wird durch eine gleichzeitige Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, dann offenbart das Grundsätze der Familien- und Gesundheitspolitik, die den Ruf nach Vorlage des Gesamtkonzepts der Humanpolitik rechtfertigen. Denn: wie immer stecken die Grundsätze in den Details. Wer vorweg Details politisch verhökert, trägt die volle Verantwortung für das Los des Ganzen. Das Ganze aber ist: das Leben.

Die Kenntnis der einzelnen Lebenserscheinungen und ihrer Unterlagen beantwortet nicht die letzte Frage des Biologen, nämlich die, was Leben ist. So Otto Loewi, Wissenschaftler aus Österreich, Vater der Biochemie, Nobelpreisträger. Eine „große, spröde Unbekannte“ nennt Loewi die „einzigartige physikalischchemische und funktionelle Organisation der Zelle im entsprechenden Milieu“. Und: ob wir sie und damit Leben jemals begreifen werden, blieb Loewi fraglich. Seit Loewi im Jahre 1958 vor fünftausend Biochemikern aus aller Welt hier in Wien diese Sätze sprach, sind Jahre vergangen. Die Unbekannte ist jetzt nicht mehr so groß und so spröde wie damals. Die Frage, was Leben ist, konnte inzwischen wohl kaum gültiger beantwortet werden, als es Loewi tat. Selbst eine eventuelle künftige Antwort, eine endgültige

Antwort, wäre nicht mehr als eine, die für unsere Erde gilt. Die aber in der Unendlichkeit des Kosmos verhallen würde wie die glaubensleere Frage an Gott.

Der Zustand unserer Umwelt und unseres Inneren läßt die Frage zu, wie weit die Denaturierung des Menschlichen betrieben werden soll; um mit mehr Spekulation und Technik schwindende, unersetzliche „Na-turhaftigkeit“ zu kompensieren. Jenseits der Beantwortung dieser Frage besteht für den Christen weiter der Auftrag, den neben anderen Julius Kardinal Döpfner, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und D. Dietzfelbinger, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in

Deutschland, Ende 1970 formulierten: Bei der kirchlichen Stellungnahme — hier namentlich auch zum Schwangerschaftsabbruch — kann es nicht darum gehen, in der staatlichen Gesetzgebung spezifische Moralvorstellungen von Religionen und Weltanschauungen rechtlich zu fixieren. Es geht vielmehr darum, den sittlichen Wertvorstellungen von allgemeiner Gültigkeit Gehör zu verschaffen und damit einer Selbstzerstörung von Staat und Gesellschaft zu wehren, die unvermeidlich aus dem Verzicht auf einen Grundbestand an sittlichen Überzeugungen als verbindliche Norm für die Gesellschaft und für die Gesetzgebung des Staates folgen würden.

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