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Solidarität - wie lange?

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Als die Nachricht von der erfolgreichen Befreiung der 86 Geiseln in Somalias Hauptstadt Mogadischu die Bundesrepublik Deutschland erreichte, glaubte man, das Aufatmen einer ganzen Nation hören zu können. Mitten in die Euphorie platzten dann die Stammheimer Selbstmorde von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe. Einen Tag später fand man Martin Schleyer ermordet im Kofferraum eines Autos im französischen Mühlhausen. Die Gefühlsskala der drei Tage, in denen sich dies alles ereignete, reichte von überschwenglicher Freude über kopfschüttelnde Verständnislosigkeit bis zu Wut und Trauer. Die Wiener „Presse” prophezeite lange vor dem Ausgang des Dramas, daß nach seiner Beendigung, ganz gleich, wie sie aussehe, die Bundesrepublik nicht mehr dieselbe sein werde.

Hat sich wirklich etwas verändert? Ist die Bundesrepublik wirklich eine andere geworden, positiv oder negativ?

Unwillkürlich malt man sich aus, was geschehen wäre, wenn der Staat der Erpressung der Terroristen nachgegeben hätte. Elf inhaftierte Terroristen wären ihrer Bestrafung entgangen. Das Leben Hanns Martin Schleyers und des Lufthansa-Piloten Schumann wäre vielleicht gerettet worden. Der Staat aber, das Gemeinwesen, das dem Bürger seinen Schutz garantiert, das ihm das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit vermitteln soll - es wäre auf schlimmste Weise diskreditiert worden.

Die Taktik aller Terroristen, die aus kranken politischen Motiven einen freiheitlichen Rechtsstaat als Unrechtsregime bekämpfen, zielt genau darauf ab. Was legal nicht zu erreichen ist, wird in unüberbietbarem Zynismus mit verbrecherischen Mitteln versucht Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe, wie ihre terroristischen Nachfolger gaben immer vor, „im Interesse des Volkes” zu handeln und zu morden. Aber sie wußten, daß dieses Volk nicht nur ihren Terror, sondern auch ihre politischen Ziele ablehnt. Um trotzdem ihre paranoide Fiktion eines menschheitsbeglückenden Tuns aufrechterhalten zu können, verstiegen sie sich zu der Theorie, es sei eben dieser freiheitliche Rechtsstaat, der die Bürger in Unmündigkeit, Unterdrückung und mit Lügen aufrechterhaltender Unwissenheit verkümmern lasse. Also müsse man ihn mit jedem denkbaren Mittel beseitigen - ihn lächerlich machen, ad absurdum führen, ihn in seiner ganzen, so die Kalkulation, „demokratischen Schwäche und Verlogenheit” (r’>!drui Ensslin) entlarven.

Diese Kalkulation ist nicht aufgegangen. Der Staat, der in die Knie gezwungen werden sollte, blieb standhaft, auch um den Preis schmerzhafter Opfer, aber im Bewußtsein, den zweifelnden Bürgern den endgültigen Beweis seiner Existenzberechtigung geliefert zu haben.

Daß dies nötig war, zeigt ein Blick auf die vergangenen Jahre. In zunehmendem Maße war in oft verantwortungsloser Weise von Politikern und Intellektuellen eine Art „Staatspessimismus” verbreitet worden. Das Wort von der „permissiven Gesellschaft”, die alles erlaubt und dem Staat allenfalls eine Nachtwächterrolle zugesteht, kennzeichnete eine Epoche des Zurückweichens und Liberalisie- rens um (fast) jeden Preis. Die Bürger honorierten dies jedoch nicht mit Beifall für angeblich nötige Reformen, sondern mit zunehmender Verunsicherung, die schließlich in verbreiteter „Staatsverdrossenheit” (Willy Brandt) ihren deutlichen Ausdruck fand.

Irre geworden an den in Uraben- kämpfen verstrickten Parteien, irre geworden an der staatlichen Autorität, die bis dahin - ohne repressiv gewesen zu sein - doch auf Rechtsbruch mit Strafe geantwortet hatte, nun aber mehr und mehr vor Gewalt (wie bei den blutigen Demonstrationen gegen Kernkraftwerke) und verfassungsfeindlicher Unterwanderung (Einstellung von Extremisten in den öffentlichen Dienst) zurückwich, mußte für die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Herausforderung von Köln und Mogadischu zum Fanal werden. Wenn die Bundesrepublik sich noch als freiheitlicher Staat verstand und den Willen hatte, diese Freiheit nach innen wie nach außen abzusichern, wenn sie noch, gerade nach den leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit, den Mut hatte, die Stärke der Demokratie unter Beweis zu stellen, dann durfte und konnte sie der Erpressung nicht nachgeben.

Die Prüfung wurde bestanden - der Preis allerdings war der Tod schuldloser Bürger. Aber das neuerstarkte Bewußtsein der deutschen Bevölkerung, diesem Staat wieder vertrauen zu können, weil er Rückgrat in der Not gezeigt hatte, ist ein nicht hoch genug zu veranschlagender Erfolg. Die Solidarität der Demokraten, die viel und laut beschworen wurde, hat endlich einmal funktioniert und gezeigt, daß es trotz allem, nach wie vor exerzierten (und in einer Demokratie notwendigen) Parteigezänk einen Grundkonsens gibt, der alle eint.

Dieses beruhigende Gefühl macht es den Deutschen leichter, das Mißtrauen und Unverständnis, den teilweise offenen Haß und die unausrottbaren Vorurteile im benachbarten Ausland gegen die deutsche Demokratie zu ertragen. Man ist selbstbewußter geworden, weü man sich mit dem eigenen Staat identifizieren kann, ohne ein nationalistisches Gespenst’ heraufzubeschwören. Die Beschwörung der Gefahr eines neuen Faschismus oder Neonazismus in Deutschland ist genauso absurd wie die Kreuzung einer Spinne mit einem Elefanten. Und es ist nicht die Schwäche, sondern die Stärke einer Demokratie, wenn sie nach der Herausforderung Maßnahmen diskutiert und ergreift, die eine Wiederholung wenn nicht verhindern, so doch zumindest sehr viel schwieriger machen. Dazu gehört auch die Ursachenforschung nach den Wurzeln des Terrorismus und es gehört dazu die nicht immer bequeme Frage, ob alles getan worden ist, die vorhersehbare Eskalation des Terrors zu verhindern.

Dies verkennen all die, die heute so leichtfertig von Inquisition, von Intellektuellenhatz und Hexenjagd reden. Wenn heute der Nobelpreisträger Heinrich Böll angegriffen wird, weü er einmal Äußerungen getan hat, die zumindest Verständnis für die Motive der Terroristen enthielten, so geschieht dies nicht, um einen unbequemen Kritiker zu diffamieren und mundtot zu machen, sondern um ihn auf einen Irrtum hinzuweisen, der möglicherweise dazu beigetragen hat, daß verzweifelte junge Menschen, versehen mit dem mißverstandenen Segen einer geistigen Autorität, auf die falsche Bahn geleitet wurden. Ob „Sympathisant” oder nicht - Fehler und Irrtümer einzusehen und einzugestehen, ist kein Akt der Selbstdemontage oder eine Niederlage unter dem Zwang der Umstände, sondern ein Beweis der persönlichen Integrität und Souveränität.

Es war bis vor wenigen Jahren noch Mode, den Gesellschaftskritikem und Kulturpessimisten, die den bundesrepublikanischen Staat in Frage stellten, Beifall zu zollen. Eine gefestigte Demokratie kann das ertragen. Wenn aber im nachhinein sich die teüweise verheerende Auswirkung dieses „Miesmachertums” herausstellt, müssen sich auch die Beifallsklatscher von damals die Kritik an sich selbst gefallen lassen, die Erinnerung daran, daß Intellektuelle nicht in einem geistigen Naturschutzpark leben, sondern daß, je größer ihre geistige Autorität ist, sie um so mehr Verantwortung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft tragen, die ihnen diese fast unbegrenzte Freiheit der Kritik erst gewähren.

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