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Ein SA-Mann namens Baader

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Dreißig Jahre nach dem Nürnberger Prozeß beginnt Deutschlands spektakulärster und wahrscheinlich auch längster Kriminalprozeß seit dem Verfahren von Nürnberg. Und wie damals waffenstarrende Justitia, Rechtsfindung im Schatten der Angst vor Terrorakten und Versuchen, die Gefangenen zu befreien. Vor allem aber wie damals der durch nichts und niemanden aus der Welt zu schaffende Widerspruch zwischen dem die Angeklagten und ihre Taten betreffenden allgemeinen Informationsstand und dem unverbrüchlichen Anspruch jedes Prozesses auf Wahrheitssuche vom Nullpunkt an.

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Dreißig Jahre nach dem Nürnberger Prozeß beginnt Deutschlands spektakulärster und wahrscheinlich auch längster Kriminalprozeß seit dem Verfahren von Nürnberg. Und wie damals waffenstarrende Justitia, Rechtsfindung im Schatten der Angst vor Terrorakten und Versuchen, die Gefangenen zu befreien. Vor allem aber wie damals der durch nichts und niemanden aus der Welt zu schaffende Widerspruch zwischen dem die Angeklagten und ihre Taten betreffenden allgemeinen Informationsstand und dem unverbrüchlichen Anspruch jedes Prozesses auf Wahrheitssuche vom Nullpunkt an.

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In der Causa Baader-Meinhof wird die Fiktion eines solchen Nullpunktes so offenkundig sein wie in Nürnberg. Aber ohne alle Ironie gesprochen — in Nürnberg hatte es die Gerechtigkeit leichter, und dies sowohl vom Inhalt wie auch von der Konstruktion des Verfahrens her. Was jeder „weiß“ und was bewiesen werden kann, das sind oft sehr verschiedene Dinge. (Eine Diskrepanz, die im Hintergrund vieler Justizirrtümer steht.) In Nürnberg war die Beweislage wesentlich günstiger als die Alliierten noch im Sommer 1945, als in London die Einzelheiten des Tribunals festgelegt wurden, ahnen konnten. Die NS-Bonzen hatten viele Tonnen von Beweismaterial hinterlassen, aus dem die Rolle jedes einzelnen Angeklagten hervorging.

Die Angeklagten von Stuttgart-Stammheim schweigen. Die Beweislage ist nur insofern günstig, als es voraussichtlich nicht allzu schwierig sein wird, der Gruppe gemeinschaftliche Mordtaten und den einzelnen Angeklagten die Mitgliedschaft in und die Identifizierung mit dieser Gruppe zu beweisen.

Aber weiter? Baader, Meinhof & Co. können nur dann ohne Rechtsbeugung wegen Mordes verurteilt werden, wenn bewiesen werden kann, daß der Angeklagte A den Mord X begangen hat oder an diesem Mord beteiligt war. Es igt das große Fragezeichen von Stammheim, wie weit solche Beweise gelingen werden. Und es ist die Vermutung gestattet, daß das Gerangel um die Wahlverteidiger

aus der Sympathisantenszene der Angeklagten nicht nur auf die Angst zurückzuführen ist, diese Verteidiger könnten, nachdem die Justiz den Prozeßbeginn bis heute hinausgeschoben hat, ihrerseits nun dessen Ende hinausschieben, sondern auch auf die Angst, diese Verteidiger könnten gewisse Schwächen der Anklage allzu schonungslos bloßlegen.

In London, wo die Siegermächte im Sommer 1945 das Statut für den Nürnberger Prozeß formulierten, stand die Angst vor einer ähnlichen Situation im Hintergrund. Noch hatten die allüerten Armeen nicht das gesamte Beweismaterial aufgestöbert, ganz zu schweigen von der Sichtung dieser Papierberge. Daher der berühmte Erste Anklagepunkt von Nürnberg, der Verschwörungsparagraph, der theoretisch die Möglichkeit geboten hätte, alle Angeklagten von Nürnberg aufzuknüpfen, ohne auf ihren persönlichen Anteil an den Naziverbrechen im einzelnen einzu-

gehen. Denn das juristische Vakuum zwischen dem Ende des Dritten Reiches und der Gründung neuer deutscher Staaten ermöglichte es, diesem weltgeschichtlich einmaligen Prozeß Verfahrensregeln auf den Leib zu schneidern. Auf ein anderes Blatt gehört dabei die zeitgeschichtlich total vernachlässigte Tatsache, daß die Richter von Nürnberg den Verschwörungsparagraphen desavouierten, indem sie ihn zur Wirkungslosigkeit verurteilten — aber sie haben ihn ja auch nicht gebraucht, um die Hauptkriegsverbrecher von Nürnberg der verdienten Höchststrafe zuzuführen.

In der Causa Baader-Meinhof ist es anders. Die Frage, ob die Angeklagten von Stammheim Terrorakte begangen und wahllos Menschen getötet haben, publizistisch dem Prozeß vorzubehalten, das hieße, die prozessuale Unschuldsvermutung überstrapazieren und den informierten Zeitgenossen zum Dummkopf degradieren. Aber wer von diesen vier Angeklagten war an welcher Terrortat in welcher Weise ausführend, planend, vorbereitend, als Mittäter beteiligt? Das deutsche Recht kennt keine Verurteilung wegen Mordes auf Grund bewiesener Zugehörigkeit zu einer Bande, die Morde geplant und ausgeführt hat.

Niemand weiß, was die von der modernen naturwissenschaftlichen Spurensuche beigebrachten Beweise hergeben werden. Wenn es auf diesem Gebiet keine Überraschungen gibt, ist die Gefahr abzusehen, daß

dieses Verfahren entweder mit einem juristischen oder mit einem politischen Desaster endet. Eine Verurteilung nach einem Beweisverfahren zu herabgesetzten Preisen wäre ein Unglück für den Rechtsstaat. Was aber, wenn der Baader-Meinhof-Prozeß mit Freisprüchen von den Mordanklagen infolge eines Beweisnotstandes endet?

Hier wird die unerhörte politische Dimension dieses Prozesses sichtbar. Das Nürnberger Tribunal konnte es sich ohne weiteres leisten, einige Randfiguren unter den Angeklagten freizusprechen. Der Nationalsozialismus in seiner zeitbedingten deutschen Version war damals gründlicher tot, als seine Gegner, ob auf alliierter oder deutscher Seite, hoffen durften.

Die vier Angeklagten von Stuttgart aber sind die Führerflguren einer Bewegung, die ohne Übertreibung als staatsgefährdend bezeichnet werden kann. Sie hatten in den Jah-

ren ihrer Untersuchungshaft nicht nur Gelegenheit, miteinander Kontakt aufzunehmen, sondern auch, dem terroristischen deutschen An-archo-Untergrund Richtlinien zu geben. Selbstverständlich würden auch Freisprüche von den Mordanklagen keine alsbaldige Freilassung dieser vier Angeklagten nach sich ziehen — es bleibt eine Reihe anderer Delikte, deretwegen sie aller Voraussicht nach ohne die geringste Gefahr einer Rechtsbeugung oder eines Beweisnotstandes verurteilt werden können.

Das große Rätselraten hinter den Kulissen, eines der Ratespiele im Umkreis dieses Prozesses, betrifft das mögliche Strafausmaß für jene Delikte, die man ihnen beweisen kann. Als Boll vorschlug, Ulrike Meinhof freies Geleit zu geben (das sie offenbar gar nicht wollte, jedenfalls nicht als Gnadenakt der ihr verhaßten Gesellschaft), konnte man (mit mehr oder weniger guten Gründen) schon noch der Meinung sein, die terroristische Version des deutschen Neo-Anarchismus habe mit der Verhaftung seines harten Kerns ausgespielt, sei am Ende. Heute ist das anders.

Ein Andreas Baader, eine Gudrun Ensslin, eine Ulrike Meinhof, ein Jan-Karl Raspe, die durch die Maschen der Mordanklage schlüpfen, weil es nicht gelingt, bestimmten Angeklagten bestimmte Morde zuzuordnen und nachzuweisen, und die, wegen untergeordneter Delikte verurteilt, in zehn, in zwanzig Jahren, ja vielleicht früher wieder freigehen — die deutsche Justiz könnte einen solchen Ausgang des Verfahrens als Beweis ihrer Objektivität betrachten, aber wer wagt heute zu prophezeien, ob die heutigen Angeklagten dann ungefährlich sein werden? Und wie würde die westdeutsche Gesellschaft reagieren?

Justitia hat eine Binde vor den Augen.. Das Prozeßpublikum, und das sind im gegebenen Fall zumindest die Westdeutschen, sind dazu nicht verhalten. Im Gerichtssaal haben nur der Beweis und die Tat zu gelten.

Aber außerhalb fragt man sich bang: Wie gefährlich sind die Terroristen hinter deutschen Gefängnismauern? Und vor allem: Warum sind sie überhaupt gefährlich? Wie einst in Nürnberg ist dieses Verfahren von seinen politischen Implikationen unmöglich zu trennen.

Es bieten sich weitere Parallelen mit dem Nürnberger Prozeß an. Sie betreffen natürlich in keiner Weise Umfang und Tragweite der Anklagepunkte, aber in einem gewissen Sinn sehr wohl den Tätertyp. In den herkömmlichen Kriterien von Rechts und Links trennen natürlich Welten die politisch auf der äußersten Rechten stehenden Angeklagten von Nürnberg von den angeblich auf der äußersten Linken stehenden Terroristen von der „Roten Armee-Fraktion“. Aber stehen Baader, Meinhof und Konsorten wirklich links?

Wenn man, legitim oder nicht, links eine auf die Veränderung der Gesellschaft zielende, an der Analyse

der konkreten politischen Verhältnisse orientierte Politik ansiedelt, mit Sicherheit nicht. Auch nicht, wenn man unter Links kurzerhand kommunistisch oder marxistisch versteht. Im Grunde genommen trennen einen Andreas Baader Welten von Rudi Dutschke und seiner Losung des langen Marsches durch die Institutionen. Mit Röhm (und zwar nicht im Hinblick auf dessen Privatleben, sondern nur als politische Figur) wie mit dem Typ des früheren SA-Mannes, vielleicht auch mit Mussolini, hat er wesentlich mehr gemeinsam. Aber waren nicht Mussolini und die SA-Rabauken Faschisten, und haben nicht die Baader-Meinhof-Terroristen den Antifaschismus auf ihre nicht vorhandenen Fahnen geschrieben?'

Baader, Memhof und so-weiter mögen Anarchisten, Marxisten oder sonst etwas sein, wenn man von ihren Pamphleten und Programmen ausgeht. Artverwandte des Faschismus aber sind sie insofern, als nach allem, was man heute weiß, ihre politischkriminelle Tätigkeit nicht von der Analyse einer konkreten politischen Situation und der zur Erreichung eines konkreten Zieles angezeigten Mittel, sondern von ihren individuellen und gruppenspezifischen emotionellen und psychischen Gegebenheiten bestimmt war.

Mag sein, daß sie die Gesellschaft hassen — obwohl einiges darauf hindeutet, daß es sich dabei eher um eine Projektion ihrer eigenen Angst und Verzweiflung handelt.

Faktisch aber ist das, was heute in Stammheim auf der Anklagebank sitzt, keineswegs das Produkt anarchistischer oder marxistischer Ideen, sondern die Konkursmasse eines neuen Führerkultes. Eine potentielle Führerfigur in Schulklassengrößenordnung war Baader schon lange vor seiner Politisierung, und schon die Umstände, unter denen er einst in das Blickfeld der Öffentlichkeit trat, beweisen, daß er nicht von politischen Ideen, sondern vom Willen, Räuberhauptmann zu werden, beflügelt war. Andreas Baader begann seine Laufbahn als Terrorist nicht mit einer politischen Aktion, sondern mit einer Brandstiftung in einem Kaufhaus, und diesem Programm blieb er treu.

Was er seine politische Theorie nennt, ist von einer intellektuellen Dürftigkeit, die auch vom Führer höchstselbst nebst Rosenbergs „Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts“ nicht überboten werden kann.

Ein bislang vernachlässigtes Phänomen besteht aber darin, daß der Terror von Baader so zielstrebig eingesetzt wurde wie einst von den Nazis. Der grundlegende Unterschied besteht darin, daß Baader niemals nach der Macht im Staat gegriffen hat, sondern antrat, den verhaßten Staat zu zerstören, was wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß der potentielle SA-Mann Baader, der die studentische Linke der späten sechziger Jahre beerbt und um

den letzten Kredit gebracht hat, keine Chance bei den Massen hatte.

Doch der hochintelligente Baader erkannte seine Chance und handelte marktkonform wie ein Manager, der seine Umsatzchancen in einem eng begrenzten, aber kaufkräftigen Marktsegment erkennt. Er betrieb sozusagen politische Marktsegmentierung, als er eine Botschaft des undifferenzierten Hasses gegen die Welt, wie sie ist, entwickelte — eine Botschaft, welche die überwiegende Mehrheit der Menschen abschreckt, eine verschwindend geringe Minderheit aber faszinieren und zu seiner Gefolgschaft machen mußte: „Es zittern die morschen Knorchen...“.

Darin liegt die Gefahr. Baader stellt, ganz anders als Dutschke, überhaupt keine intellektuellen Ansprüche, er ist das Idol nach Maß für einen Menschentyp, der sich bekanntlich auch vom Nationalsozialismus stark angesprochen fühlte: gescheiterte junge Menschen, deren Machtanspruch in einem umgekehrten Verhältnis zu ihren Möglichkeiten steht, jemals auch nur im aller-kleinsten Maßstab Macht auszuüben, und die Geborgenheit, Bestätigung und Absolution in der Gruppe suchen.

Das Ausmaß an Skrupellosigkeit und Radikalität bestimmt dabei den Platz in der Hackordnung. Andreas Baader wurde in einer Gruppe, die durch ihn nun wirklich zur Bande wurde, nicht durch seine Bedeutung als politischer Kopf der Boß, sondern dadurch, daß er es geschickt verstand, Radikalität zum obersten Prinzip der Gruppe zu machen und selbst der Radikalste zu sein. Ulrike Meinhof war einst eine brillante Intellektuelle. Ihre Unterordnung unter Baader war ihr Abschied an den Intellekt — und gerade auch an den politischen.

Es ist noch ein großes Glück für die Gesellschaft, daß, anders als in den dreißiger Jahren, die Ideen, die bei Studenten und Intellektuellen ankommen, sich grundlegend von jenen Ideen unterscheiden, die bei den Massen ankommen. Denn genau dieser Umstand trennt den im studentischen Milieu entstandenen Terroristen Baader von der breiten Masse. Wäre es anders, könnten die Folgen unausdenkbar sein.

Sie sind auch so schlimm genug. Denn man kann sich darauf verlassen, daß Baaders dürftige und abstruse Gedanken auf Grund ihrer Emotionalität da und dort auf einen fruchtbaren Boden fallen. Die Beispielwirkung ist ungeheuer, die Versuchung, einander zu übertrumpfen, groß. Das Beispiel der Palästinenser, deren gruppenpsychologische Prozesse sicher nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten verlaufen, ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Das Schrecklichste aber ist die Leichtigkeit, mit welcher der moderne Terrorismus in der hochtechnisierten Welt von heute zu seinen Erfolgserlebnissen kommt. Mangel an Erfolgserlebnissen läßt Bewegungen einschlafen, Erfolgserlebnisse halten sie am Leben.

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