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„Sport ist Kriegsspiel”

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Im Herbst 1945 besuchte die Fußballmannschaft Dynamo Moskau Großbritannien und trat gegen führende Mannschaften auf der Insel an. Es kam zu Ausschreitungen auf dem Spielplatz und Massenschlägereien im Publikum. Dies veranlaßte George Orwell zu einem kritischen Essay über den ,JSportgeist”, der am 14. Dezember 1945 in der „Tribüne” erschien.

Uber Orwells geradezu prophetische Gaben ist vergangenes Jahr in Zusammenhang mit seinem Buch ,J984” ja bis zur Erschöpfung diskutiert worden. Aus gegebenem Anlaß — dem Massaker irr* Brüsseler Stadion beim Europacup-Endspiel zwischen Liverpool und Juventus Turin vergangene Woche — wollen wir Orwells ,JSportgeist”-Re-flexionen auszugsweise wieder in Erinnerung rufen. Sie sind beklemmend aktuell:

Ich bin immer wieder verblüfft, wenn ich Leute sagen höre, daß der Sport Wohlwollen zwischen den Nationen schaffe und daß das einfache Volk der verschiedenen Länder, wenn es sich nur beim Fußball oder Kricket treffen könnte, keine Neigung hätte, sich auf dem Schlachtfeld zu begegnen. Selbst wenn man nicht von konkreten Beispielen (wie den Olympischen Spielen 1936) wüßte, daß internationale Sportwettkämpfe zu Haßorgien führen, könnte man es aus allgemeinen Prinzipien ableiten.

Fast jeder Sport, der heutzutage betrieben wird, beruht auf Wettbewerb. Man spielt, um zu gewinnen, und das Spiel hat wenig Bedeutung, sofern man nicht sein Äußerstes tut, um zu gewinnen.

Auf dem Dorfanger, wo man Mannschaften wählt und keine lokalpatriotische Gesinnung im

Spiel ist, ist es möglich, einfach spaßes- und übungshalber zu spielen; aber sobald die Frage des Prestiges auftaucht, sobald man das Gefühl hat, daß bei einer Niederlage man selbst und irgendeine größere Einheit in Ungnade fällt, werden die wüdesten Kampfinstinkte geweckt. Jeder, der auch nur in einem Schulfußballspiel mitgewirkt hat, weiß das.

Auf internationaler Ebene ist der Sport, offen gesagt, ein Kriegsspiel. Aber das Wesentliche ist nicht das Verhalten der Spieler, sondern die Haltung der Zuschauer; und hinter den Zuschauern, der Nationen, die sich wegen dieser absurden Wettkämpfe in Wutanfälle hineinsteigern und im Ernst glauben — zumindest für kurze Zeitabschnitte daß Wettlaufen, Springen und Balltreten Kriterien der nationalen Tugend sind...

Sobald starke Rivalitätsgefühle geweckt werden, verschwindet der Gedanke, das Spiel nach den Regeln zu spielen. Die Leute wollen die eine Seite obenauf und die andere erniedrigt sehen, und sie vergessen, daß ein Sieg, den man durch Betrügen oder das Eingreifen der Menge erringt, bedeutungslos ist.

Selbst wenn die Zuschauer nicht physisch eingreifen, versu-* chen sie doch, das Spiel zu beeinflussen, indem sie ihrer eigenen Seite zujubeln und die Spieler der Gegenseite mit Buhrufen und Beleidigungen nervös machen.

Seriöser Sport hat nichts mit

Fairplay zu tun. Er ist mit Haß, Eifersucht, Prahlerei, Mißachtung sämtlicher Regeln und einem sadistischen Vergnügen, Gewalt mitzuerleben, verknüpft: mit anderen Worten, er ist ein Krieg ohne das Schießen.

Die meisten heutigen Spiele sind alten Ursprungs, doch scheint der Sport zwischen dem römischen Zeitalter und dem neunzehnten Jahrhundert nicht ernst genommen worden zu sein. Dann wurden, hauptsächlich in England und in den Vereinigten Staaten, die Wettspiele zu einer stark finanzierten Tätigkeit entwickelt, die imstande war, große Menschenmengen anzulocken und wilde Leidenschaften zu entfachen, und ein Land nach dem anderen wurde von dieser Krankheit angesteckt.

Es sind die äußerst kampflustigen Sportarten, der Fußball und das Boxen, die sich am weitesten verbreitet haben. Es können kaum Zweifel bestehen, daß die ganze Sache eng mit dem Auftauchen des Nationalismus verknüpft ist — das heißt, mit der irren modernen Gewohnheit, sich mit großen Machteinheiten zu identifizieren und alles in Form von wetteiferndem Prestige zu sehen ...

Wenn man die ungeheure Fülle an Feindseligkeit, die es gegenwärtig auf der Welt gibt, erweitern wollte, könnte man dies kaum besser tun als durch eine Reihe von Fußballspielen zwischen Juden und Arabern, Deutsehen und Tschechen, Russen und Polen, Italienern und Jugoslawen, wobei jedes Spiel von einem gemischten Publikum von 100.000 Zuschauern verfolgt werden sollte.

Natürlich will ich damit nicht sagen, daß Sport einer der Hauptgründe für den internationalen Wettstreit ist; der Massensport ist meiner Ansicht nach bloß eine weitere Folge der Ursachen, die den Nationalismus erzeugt haben.

Und dennoch macht man die Dinge schlimmer, wenn man eine Mannschaft von elf Leuten, die als Landesmeister bezeichnet werden, aussendet, um gegen irgendein rivalisierendes Team zu kämpfen, und allgemein das Gefühl zuläßt, daß die Nation, die besiegt wird, ihr „Gesicht verliert” ...

Aus: DAS ORWELL LESEBUCH. Diogenes Verlag, Zürich 1981. 342 Seiten, TB., öS 76,50.

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