Wettstreit Literatur - © Illustration: Rainer Messerklinger

Literatur als Wettstreit: Auf der Suche nach dem Liebling der Götter

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Wie misst man literarische „Leistungen“? Überlegungen zum sportlichen wie literarischen Wettstreit – in der Antike und heute, im Zeitalter der nationalen Buchpreise.

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Wie misst man literarische „Leistungen“? Überlegungen zum sportlichen wie literarischen Wettstreit – in der Antike und heute, im Zeitalter der nationalen Buchpreise.

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Literatur als Sport zu sehen, ist nicht neu, man denke nur an die Dichterwettstreite, die Charles, Herzog von Orléans im 15. Jahrhundert veranstaltete. So bietet es sich an, an die knapp zwei Monate zurückliegenden Olympischen Spiele in Tokio zu denken, wenn zurzeit ein großer Teil der literarischen Öffentlichkeit mit dem Deutschen, dem Österreichischen, dem Schweizer Buchpreis beschäftigt ist. Man diskutiert die Leistungen von Nominierten und ihren nicht bedachten Kollegen, von Jury und Verlagen. Aber vielleicht sind die Leistungen selbst, von Dichtern wie von Stabhochspringern, Judoka, Synchronschwimmern usw., nicht das Entscheidende und vergleicht man Literatur und Sport unter dem falschen Gesichtspunkt?

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Wir werden in diesem Verdacht bestärkt, wenn wir auf die Geschichte der Wettkämpfe zurückblicken. Die modernen Olympischen Spiele knüpfen ja schon durch den Namen an antike Vorbilder an, und somit kommt eine Zeit in den Blick, als das Verhältnis von Literatur und Sport noch ein anderes war (Literaturwettkämpfe gab es freilich auch damals schon).

Würdigung durch Epinikien Im alten Griechenland waren die Olympischen Spiele nur das bedeutendste von zahlreichen sportlichen Wettkampfereignissen (besonders wichtig waren neben den Olympischen noch die Pythischen, die Nemeischen und die Isthmischen Spiele). Von Pindar, einem der größten Lyriker der griechischen Antike – und dem für uns vielleicht rätselhaftesten –, sind vor allem die Werke erhalten geblieben, die zur Würdigung von Siegen in solchen Wettkämpfen geschrieben wurden, sogenannte Epinikien, die von einem Chor – auch das für unsere Gewohnheiten mit Lyrik zumindest ungewohnt – bei der Rückkehr des jeweiligen Siegers in seine Heimat vorgetragen wurden.

Das wichtigste „Kulturprogramm“ der Spiele jener Zeit scheint eben diese künstlerische Würdigung der Sieger gewesen zu sein. Der große russische Altphilologe und Lyrikforscher Michail Gasparow sieht den Grund, warum Vertreter dieses Genres – neben Pindar beispielsweise Simonides und Bakchylides – auf uns befremdlich wirken, in der Rolle jener Wettkämpfe in der griechischen Gesellschaft: Während wir heute naiv glauben, sportliche Wettkämpfe dienten dazu, zu ermitteln, wer die beste Leistung vollbringt, zum Beispiel besonders hoch springt, wussten die alten Griechen: Es ging darum, festzustellen, wer besonders hoch in der Gunst der Götter stand – und damit wessen Polis. Aus demselben Grund, und nicht weil sie so athletisch waren, waren die Sieger auch gesuchte Mitstreiter im Kriege, denn wer hat nicht gerne die Götter auf seiner Seite? Das galt aber wirklich nur für die Sieger im engeren Sinne – schon die Zweitplatzierten mussten nach Hause schleichen, um sich der Schmach möglichst wenig auszusetzen.

Das wichtigste ‚Kulturprogramm‘ der Spiele jener Zeit scheint die künstlerische Würdigung der Sieger gewesen zu sein.

Wenn wir die Kandidaten unserer Literaturbewerbe fragen, werden viele antworten, auch ihnen gehe es subjektiv kaum anders. Oder? So oder so ist die alleinige Fixierung auf den Sieger weit weg von der „Dabei sein ist alles“-Parole, die in unserer Zeit gerne im Sport hochgehalten und insbesondere mit den Olympischen Spielen in Verbindung gebracht wird. Aber vielleicht ist die altgriechische „Sportsmentalität“ doch nicht so weit von der unseren entfernt, die mit Wettkämpfen aufwartet, für die Nationen ihre Athleten kostspielig ausbilden und die oft in hohem Maße als „Nationenwettkämpfe“ strukturiert sind und vermarktet werden. Daran anknüpfend: Wieso verfolgen selbst Menschen, die das Musikgenre und die Bewertungsmodalitäten eigentlich nicht ernst nehmen können, häufig den Eurovision Song Contest (obwohl sie vielleicht sonst eher Hip-Hop, Heavy Metal oder Wiener Klassik hören)? Im Sport wie anderswo geht es auch bei uns ein bisschen darum, wessen Polis die beste ist.

Hier könnte sich auch eine Lösung für das Defizit an öffentlichem Interesse, das unser Literaturbetrieb beklagt, auftun: Lasst uns die Kandidaten bei Bachmannpreis, Deutschem Buchpreis oder Lyrikpreis Meran doch in einem höheren Maße „für ihr Land“, ja gar für ihr Bundesland, ihren Kanton, ihre Stadt oder ihren Weiher antreten lassen. Einige Medien haben die neu-alten Zeichen der Zeit ja schon im Ansatz erkannt und zählen zum Beispiel Österreicher oder Norddeutsche (auch gerne Männer und Frauen, aber da verdirbt einem das Paritätsziel irgendwie das Mitfiebern), doch da ist noch viel Potenzial! Ob die Ostwestfalen besser oder schlechter als die Burgenländer sind (sprich, wem von beiden die Götter gewogener sind), kann so endlich bestimmt werden (eine Momentaufnahme freilich, denn die Götter sind launisch).

Harmonisches Siegerbild

Aber halt, wo bleibt denn da die Individualität der Athleten? In den Epinikien von Pindar spielte auch sie eine Rolle: Wenn jemand zum Beispiel ein olympisches Rennen gewonnen hatte, wurden nicht nur seine Heimat, sondern auch seine Ahnen, seine Lebensführung, sein Aussehen in ein harmonisches Siegerbild gegossen. Wer Sieger ist, dem haben die Götter immer wieder in kleinen und großen Details ihre Gunst gezeigt! Vielleicht ist das Interesse, das moderne Massenmedien dem Privatleben berühmter Sportler entgegenbringen, ein degenerierter Abglanz jener ganzheitlichen Siegerwürdigungspraxis.

Eine übermäßige Konzentration an Preisen bei einzelnen Personen müssen wir auch nicht befürchten, denn dank Homer und Herodot wissen wir: Wer von den Göttern begünstigt wird, verfällt darob schnell in Hybris und verliert die Gunst wieder (und daran werden wohl auch Warnungen diesbezüglich, wie sie Pindar selbst bisweilen einstreute, nicht viel ändern). Womit wir wieder bei Corona wären: Auch der Verlauf der Pandemie spornte Kommentatoren aus gerade in einer glimpflichen Phase befindlichen Ländern an, zu erklären, welche überlegenen Eigenschaften ihres Landes es so viel besser als gerade besonders betroffene Länder dastehen ließen, nur um wenig später von vertauschten „CoronaRollen“ überrascht zu werden.

Mag sein, dass wir ob der Fremdartigkeit der antiken Gesellschaft deren Gedichte gewissermaßen nie adäquat werden rezipieren können (übrigens auch die mit individueller Befindlichkeit im thematischen Zentrum, bei diesen fällt es uns nur weniger auf), aber das heißt beileibe nicht, dass ihre Lektüre uns keinen Gewinn bringen kann. Friedrich Hölderlin hat die tiefe innere Verbindung zwischen den Epinikien und der altgriechischen Philosophie gesehen und Pindar nicht nur übersetzt, sondern war in seinen späten Hymnen stark von ihm beeinflusst. Diese handeln von Göttern und Sterblichen, von Schicksalsschlägen und Gottesgunst. Wenn wir Hölderlins Lebenslauf betrachten, merken wir, dass er selbst alles andere als ein Günstling der Götter war, von diesen eher verspottet wurde. Ein Verlierer also. Aber: Wenn wir heute über den Dichter Hölderlin sprechen, erstrahlt er uns nicht als Sieger?

Wer auch immer die Buchpreise heuer erhalten wird – die Entscheidung der Götter (es versteht sich, dass die Jury nur deren Werkzeug ist) werden wir natürlich nicht anzweifeln wollen, aber behalten wir trotzdem im Hinterkopf, dass das Ganze so einfach dann doch nicht ist.

Der Autor lebt als Übersetzer in Frankfurt am Main.

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