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Warten auf das Wunder

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„Die Demokratie ist zu einer Norm geworden, der sich niemand mehr verweigern kann. Es gibt eine Art Demokratisierungsdruck, der für alle Gesellschaften gilt..." Mit diesen Feststellungen beschreibt der kanadische Politikwissenschafter Charles Taylor einen Sachverhalt, der weder vor den Kirchen noch vor den ehemals kommunistischen Regimen und Parteien halt macht. Im neuen Rußland wurde die Demokratie verspielt, ehe sie zum Tragen kam.

Dort wo sie ernsthaft versucht, glaubwürdig angestrebt, wenn auch noch nicht makellos verwirklicht wird, erlahmt die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände nicht. Aber wo Demokratie erkennbar nur gespielt oder von Hasardeuren halb schon wieder verspielt ist, machen sich Resignation und Enttäuschung lähmend breit. Wie sehr dies im heutigen Rußland unter vielen Intellektuellen der Fall ist, schilderte der russische Schriftsteller, Lyriker und Publizist Waldemar Weber kürzlich in einem Vortrag im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Es überrascht mittlerweile westliche Zuhörer nicht mehr, wenn Referenten seiner Herkunft die Perestrojka aus Gorbatschows Tagen in Grund und Boden verdammen, obwohl wir im Westen den Eindruck gewonnen hatten, daß von ihr immerhin ein entscheidender Druck in Richtung Liberalisierung ausgegangen und vielleicht auch ein Beitrag zur unblutigen Wende geleistet worden war. Waldemar Weber: Es war der letzte große Betrug, dem auch viele Intellektuelle aufsaßen. Die Wahrheit ist, daß man seit Erstickung des Prager Frühlings wissen mußte, daß es keinen Kommunismus mit menschlichem Antlitz geben konnte. Die Nomenklatura, also die herrschende KP-Elite, versuchte unter dem Deckmantel der Perestrojka („Umwandlung"), das von ihr schon bisher beanspruchte Kollektiveigentum in (ihr) Privateigentum umzuwandeln, also an der Macht zu bleiben. Und das ist den Kommunisten in Rußland weitgehend gelungen.

Die intellektuellen Dissidenten, die von einem Rußland ohne Kommunisten geträumt haben, sehen sich heute getäuscht: Überall sind die Ausbeuter von gestern noch am Ruder. Die ehrlichen Demokraten - Weber zählt Jelzin zu ihnen - vermochten nicht, ein neues Ideal überzeugend zu formulieren und es auch durchzusetzen. Die Folge: Leere, Ratlosigkeit, Zorn, innere Emigration, Antisemitismus in Sündenbockfunktion, „Warten auf das Wunder, was schon immer die russische Krankheit war".

Das ist eine der erschreckenden Erfahrungen, auf die wir nach der „Wende" nicht gefaßt waren. Man konnte sich ausrechnen, daß es zu einer Enttäuschung der Massen über die schwierige wirtschaftliche Umkehr kommen würde. Aber daß in einem Volk von so hoher Kultur auch die Intellektuellen kapitulieren, statt zu Mut und Phantasie inspirieren würden, war schwer vorauszusehen. Wohin torkelt ein Volk, wenn seine geistigen Führer stolpern?

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