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Wiederbelebung der Ehrfurcht
Wieder einmal gibt es in Deutschland eirie heftige öffentliche Diskussion über die Abtreibung - und wieder wird klar: Diese Diskussion kann gar nicht aufhören, weil es sich hier um ein ethisches Problem handelt, das mit juristischen Mittel nicht aus der Welt zu schaffen ist.
In Deutschland geht es jetzt darum, daß nach der Vereinigung eine gemeinsame juristische Form für die Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs gefunden wird. Denn im östlichen Teil Deutschlands gilt die Fristenregelung und in der Bundesrepublik eine Indikationsregelung. Schon werden auch wieder Kulturkampftöne laut: Rudolf Augstein schreibt im „Spiegel" von einer durch den „Papst Wojtyla moralisch heruntergewirtschafteten römischen Kirche" und fordert ein Reagieren mit dem Stimmzettel. Wieder wird auch die Frage erörtert, wann das Leben denn wirklich beginne, und wieder gibt es keine eindeutige Antwort.
Vor Jahren hat der in Wien geborene und seit 1946 in den USA lebende Soziologe Peter L. Berger zusammen mit Brigitte Berger ein Plädoyer für die Familie in Buchform veröffentlicht („In Verteidigung der bürgerlichen Familie") und dieses als eines der letzten ideologischen Schlachtfelder bezeichnet. In einem Exkurs über den Schwangerschaftsabbruch wirbt der Soziologe für einen neuen Konsens in einer Frage, die auch die amerikanische
Gesellschaft spaltet. Der Konsens ist notwendig, weil Gesellschaft zuallererst eine moralische Gemeinschaft ist. Und wenn diese Übereinstimmung zerfällt, tritt Zwang an ihre Stelle. Wie aber schaut es mit diesem Konsens aus, wenn eine Hälfte der Gesellschaft die andere „als wirkliche oder potentielle-Mörder" ansieht?
Peter L. Berger weiß, daß dieser Konsens nicht durch gemeinsame Gewißheiten herbeigeführt werden kann, „sondern vielmehr durch allgemeine Reflexion über Unsicherheiten." Er ruft einerseits dazu auf, sich wieder an den Imperativ der Ehrfurcht zu erinnern, den Geburt und Tod sind zwei der größten Mysterien der Conditio humana - und er bittet um das Verständnis derer, die als „beati possedentes" im Besitz der Wahrheit sind, gegenüber den Unsicheren und Unwissenden. Man müsse wegkommen von der „Haltung dogmatischer Arroganz", die zur Gewohnheit geführt habe, sich gegenseitig aus dem Stand des wahrhaft Menschlichen zu exkommunizieren.
Und es ist bemerkenswert, daß ein Soziologe auf ein zentrales Thema der jüdisch-christlichen Tradition hinweist: „daß Erlösung aus Vergebung erwächst und nicht aus Selbstgerechtigkeit." Peter L. Berger meint auch, daß es ein säkulares Äquivalent zum theologischen Begriff der Gnade gebe: „Es ist die Entdeckung von Demut durch diejenigen, die um das Ausmaß ihrer Unkenntnis wissen."
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