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Zwischen Euphorie und Resignation Lernen, der Wahrheit zu dienen

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Die Einstellung zum Bildungssystem von heute ist durch Euphorie in Erwartung eines Zeitalters universeller und demokratischer Bildung einerseits, und Resignation über den Ertrag und die wirtschaftlichen Konsequenzen des Reformeifers anderseits gekennzeichnet. Entsprechend den von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an das Bildungssystem gestellten Aufgaben ist es heute durch eine verwirrende Vielfalt von teilweise recht widersprüchlichen Tendenzen geprägt, aus denen sich nur schwer einige Grundzüge herausarbeiten lassen. Die hervorstechende Gemeinsamkeit ist die Vorstellung von der Pädagogik oder dem Bildungswesen als einem Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlich wünschenswerter Ziele.

Mit dem Begriff des Curriculum war ursprünglich der Lehrplan als geordnetes Gefüge von als überlieferungswürdig erkanntem Kulturgut gemeint; heute wird darunter ein Katalog von Lernzielen, Lerninhalten, Lehr- und Lernstrategien und Lernkontrollen verstanden. Durch ihn soll ein Ensemble von Qualifikationen erworben werden, die zur „Bewältigung“ von gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituationen geeignet sind. Alle das Curriculum konstituierenden Komponenten müssen „rational“ ermittelbar sein. In Anlehnung an die Naturwissenschaften kommt damit auch in der Pädagogik ein Wissenschaftsmodell zum Tragen, das die Aufgabe wissenschaftlicher Forschung darin sieht, den Kausalzusammenhang zwischen pädagogischen Maßnahmen und ihren Wirkungen zu untersuchen, in allgemeine Gesetzesform zu bringen und dem Praktiker anzubieten.

Gegen eine so verstandene Pädagogik ist einzuwenden:

• Die curriculare Pädagogik muß selber wertfrei sein. Sie wird damit zum Instrumentarium zur Durchsetzung vorgegebener Ziele von seifen des Staates, der Gesellschaft, der Wissenschaft, politischer Parteien oder weltanschaulicher Gruppen.

• Der Anspruch der Durchsetzung vorgeschriebener Ziele läßt aus dem Subjekt, dem Partner im pädagogischen Bezug, einen Gegenstand der Bearbeitung werden.

• Lernziele werden in Termini objektiv feststellbaren Verhaltens formuliert. Damit werden Haltung, Gesinnung, Tugend, Charakter nicht mehr als Lernziele anerkannt. Das Leitbild curricularer Erziehungswissenschaft ist der Anpassungsfähige, der Opportunist.

Auch die emanzipatorische oder kritische Pädagogik steht diesem Pädagogik-Verständnis mit Vorbehalten gegenüber: Sie sieht hinter der vorgeblichen Wertfreiheit die Norm kapitalistischen Wirtschaftens. Leistungsdruck, Lernziele, die Kon-ditionerungsmechanismen von Sanktionen und Privilegien stünden im Dienst ökonomischer Profitmaximie-rung, der Stabilisierung bestehender Herrschaft. Ich-Schwäche, Kritiklosigkeit, Unmündigkeit und Feigheit seien die wahren Erziehungsziele dieser bürgerlichen Pädagogik. Anspruch dieser Pädagogik ist nicht mehr Ausbildung für vorgegebene gesellschaftliche und ökonomische Bedürfnisse, sondern Emanzipation.

Die Gefahr einer emanzipatori-schen Pädagogik besteht darin, daß sie sich universal und radikal gibt, die Pädagogik als Ganzes konstituieren will. Wird Emanzipation zum konstituierenden Prinzip, so bedeutet dies zunächst Negation aller Bindungen. Kritik basiert demnach auf der bereits vorweggenommenen Entscheidung zur Verneinung alles Bestehenden; sie ist nicht mehr argumentierendes Prüfen von Geltungsansprüchen, die fragwürdig geworden sind, sondern wird zum Geschäft der Entlarvung von Interessen. Gegenseitige Auseinandersetzung ist nicht mehr freie und unabhängige Argumentation, sondern wird zum kriminalistischen Aufspüren geheimer Interessen. Dieser Aufgabe emanzipatorischer Erziehung ist nicht mehr die Erziehung des prüfenden, argumentierenden, mündigen Menschen, sondern des parteilich gebundenen, fanatifierten und indok-trinierten Menschen, ist Erziehung zur Parteilichkeit.

Das Ergebnis der Analyse ist nicht ermutigend. Es zeigt die gegenwärtige Pädagogik beherrscht von zwei Richtungen mit unterschiedlichen Programmen, die als Gemeinsamkeiten aufzuweisen haben:

• die Vorstellung von der universellen Machbarkeit des Menschen und

• demgemäß ein instrumentelles Verständnis von Pädagogik.

Der Ausweg aus dieser Sackgasse kann weder im Verzicht auf Werte, noch in einer neuen Ideologie gesehen werden. Das Feld der Pädagogik darf nicht modischen Trends, seelenloser Technologie oder politischem Machtwillen ausgeliefert werden. Was der Mensch als wahr und gut anzusehen hat, läßt sich nicht kondi-tionieren, nicht behelfen, es läßt sich nur argumentativ vermitteln: Dieser Dialog aber hat nur ein Ziel, die Herrschaft der Wahrheit, und daß der Mensch lernen soll, der Wahrheit zu dienen.

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