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Versuch über Josef Nadler

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In dem Augenblick, da der Tod »ein endgültiges Siegel auf Leben und Leistung eines Mannes gesetzt hat, der an den Universitäten zu Freiburg, Königsberg und Wien deutsche Literaturgeschichte gelehrt hat und mehr als einmal im Kreuzfeuer wissenschaftlicher und politischer Kontroversen gestanden ist, wollen wir die Leistung nochmals kritisch zu würdigen versuchen, die Josef Nadler in einem fast 79 Jahre währenden Leben gesetzt hat. Kritik soll immer furchtlos, aber niemals ehrfurchtslos sein. Die Ehrfurcht hat den Verfasser dieser Zeilen seit seiner ersten Begegnung mit dem Werk und der Person seines Lehrers bis heute erfüllt. In ihrem Geiste mögen die nachstehenden Zeilen verstanden werden.

Bewundert und gescholten

„Nicht die vorenthaltenen, die unverdienten Ehren sind es, die uns bedrücken“, sagte Josef Nadler bitter, mit dem Blick auf Thomas Mann, am

Dei umstritten« „Viert Band“

End« seiner „Schlußrede“ zur einbändigen Ausgabe der „Geschickte der deutschen- Literatur', der 'letzten Um: formung seiner „Literaturgeschichte, der deutschen Stämme und Tandschaften“, deren erster Band vor einem halben Jahrhundert (1912) erschienen ist, und deren Grundkonzept — die landschaftliche Stammeshypothese — durch alle vier Auflagen hindurch bis zur einbändigen Kurzfassung von 1951 geblieben ist. Dieses Werk wurde wohl zum meistumstrittenen Buch inner- und außerhalb der Literaturwissenschaft. „Wegen jenem Buch“ war der Gelehrte „unter kontradiktorischen Gesichtspunkten zweimal, 1914 und 1945, in Buße genommen worden.“

Immerhin hat durch dieses Werk vor einem halben Jahrhundert die österreichische Literatur die Gleichberechtigung in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung erfahren. Der Verfasser dieser Zeilen hat in „Wissenschaft und Weltbild“, Jahrg. IL Heft 1, versucht, auf Grund dieses Riesenwerkes Nadlers Stellung in der österreichischen Literaturwissenschaft kritisch zu umreißen. Inzwischen hat der Gelehrte selbst sowohl in den Kapiteln „Vorschule“ und „Schlußrede“ der einbändigen Ausgabe, als insbe-sondern in seinem „Kleinen Nachspiel“ (1954) zu den kritischen Einwänden zu seiner Hypothese in wünschenswerter Deutlichkeit Stellung genommen. Er schickte diesen Expektorationen in eigener Sache noch 1962 eine als Handschrift gedruckte Ergänzung zum „Kleinen Nachspiel“ mit dem Untertitel „Drahtzieher und Figurinen“ nach, indem er entstellenden Zitaten aus seinem Werk zum letztenmal entgegentritt. An sie seien die Kritiker des „vierten Bandes“ verwiesen. (Daß dieser vierte Band im Propagandaministerium Goebbels' teilweise umgeschrieben wurde, sei zunächst nur am Rande vermerkt.)

Soziologe statt Literaturwissenschaftler

Fassen wir zur Erinnerung nochmals kurz zusammen: Als Josef Nadler auf Grund einer Bemerkung seines Lehrers, des berühmten Germanisten August Sauer, daß der „allgemeinen“ Literaturgeschichte eigentlich eine „landschaftliche“ zur Seite treten müßte, sich eine umfassende Übersichtsskizze anfertigte, die vom ältesten Literaturdenkmal bis zu Hugo von Hofmannsthal reichte und alles enthielt, was der Prager Student an dazugehörigen genealogischen und volkskundlichen Handbüchern nur auftreiben konnte, da war in nuce auch schon die vieldiskutierte — und so oft mißverstandene, rassisch mißdeutete — rein soziologische Stamnieshypothese der Literaturwissenschaft als Genieblitz eines Geistes geboren, der mehr Historiker und Soziologe denn Literaturwissenschaftler im Grunde seines Wesens war. Für die historische Sicht des Gelehrten, der in Nordböhmen geboren wurde, mag dabei das Erlebnis des Nationalitätenstreites zwischen Tschechen und Deutschen einerseits und der Kampf zwischen Katholizismus und Liberalismus anderseits prägend geworden sein. Beides hat er mitkämpfend und mitleidend knapp nach der. Jahrhundertwende am eigenen Leibe verspürt.

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