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Österreichs dynamische Verfassung

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s-jc>ci£c?au5£tiL>tn Küiincn von einer politischen Aktualität sein, die man Erscheinungen dieser Art auf den ersten Blick nicht zutraut. Der Politiker, erst recht der sogenannte Politiker, verkennt bisweilen den geschichtlichen Tatbestand, daß man mit Kodizes große Politik, ja Weltpolitik macht. Gesetze erfüllen ihren Sinn in dem Maß, wie sie in die Köpfe und Herzen der Rechtsgenossen eingehen. Nun wird es wohl kaum einen Bürger geben, der statt einer Tageszeitung Bundesgesetzblätter liest. Wie soll er aber mit dem Inhalt der Rechtsordnung, die sein Leben unausgesetzt bestimmt — ja, bestimmt bevor er lebt, und bestimmt nach seinem Tod —, bekanntwerden? Da können nur Gesetzesausgaben helfen. In Österreich ist in diesem Zusammenhang noch etwas anzumerken: Am allerwenigsten sind Bürger und Behörde, Politiker und Beamte, Offiziere und Sicherheitsorgane mit den Normen jener Ordnung vertraut, die im Rang am höchsten steht und an Bedeutung alle übrigen Vorschriften übertrifft: das ist die Verfassung! Und doch sollte jeder Österreicher seine Verfassung kennen, wie der Hauptmann von Köpenick das deutsche Strafgesetzbuch kannte. Wir greifen vielleicht nach der Straßenverkehrsordnung, weil wir mit Wagen und Kopf gerne heil in die Garage kommen möchten; allein, die Verfassung — was kümmert uns die? Wir sind weit davon entfernt, daran zu denken, daß die politische Freiheit des einzelnen, der Gruppen und der Gesellschaft, daß der soziale Friede, der ökonomische Wohlstand, unter der Schirmherrschaft des Grundgesetzes stehen, wenn sie nicht dessen Werk sind.

In den vergangenen Jahren fehlte es allerdings an einer brauchbaren, aktualisierten Verfassungsausgabe, was zwar nicht der Bürger, nicht der Politiker, um so mehr jedoch der tätige Jurist vermißte. Vor etwa einem Jahrzehnt war das letzte, von Adamovich bestellte Bundesverfassungsgesetz in der Staatsdruckerei erschienen. Endlich, vor einem Jahr, konnte der wiener manz-venag aer interessierten una uninteressierten Öffentlichkeit „Das österreichische Bundesverfassungsrecht“ vorlegen, wofür Univ.-Prof. Leopold Werner und Hofrat Dr. Han« Klecatsky als Herausgeber verantwortlich zeichnen. Beide Herausgeber genießen als führende Theoretiker und Praktiker in Sachen der Verfassung einen hervorragenden Ruf, so daß es Eulen nach Athen tragen hieße, wollte man sie näher vorstellen. Worin liegt die Eigenart der neuen Verfassungsausgabe, für deren Feingehalt die beiden Juristen bürgen? Zunächst darin, daß sie das corpus constitutionls austriacae auf eine fruchtbare Symbiose von Theorie und Praxis abstellen, was den vielfältigen Funktionen entspricht, die Werner und Klecatsky in den verschiedenen Zweigen juristischer Tätigkeit versehen. Das Hauptmerkmal erkennt man jedoch in der Art und Weise, wie man die Verfassung wachsen und reifen, leben und sich entfalten sieht, wenn man die Ausgabe zur Hand nimmt.

Die Herausgeber geben ihrer Methode im Vorwort einen eigenen Namen und prägen das Wort von der dynamischen Verfassung. Was ist damit gemeint? Nun, daß eben die Verfassung keine Zwangsjacke, sondern ein gutsitzender Anzug sei: nehmen wir ab, muß der

Anzug enger werden; nehmen wir zu, soll er erweitert werden — jedenfalls geht es nicht an, daß Österreich in einem schlechten Anzug umherläuft. Wer ist aber der Schneidermeister? Das ist die Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, vorzüglich jedoch die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs. Werner und Klecatsky haben die seit 1919 entwickelte Rechtsprechung unseres Verfassungsgerichts bis 1961 verwertet und jeweils dem entsprechenden Artikel des BVG angefügt. Das ist eine hochwertige wissenschaftliche Leistung, das ist für den Praktiker, wo immer er wirken mag, ein unschätzbarer Behelf. Präzision und Kon-zision ersetzen Bände.

Die Manzsche Große Ausgabe des österreichischen Bundesverfassungsrechts bietet in einem Band alles, was der thematisch angezeigte Stoff birgt und bergen kann. Niemand sollte ohne diese, wie ich sie nennen möchte, Bibel Österreichs sein; wenn wir, Bürger und Rechtsgenossen unserer demokratischen Republik, in überwiegender Mehrzahl damit ausgerüstet sind, dann wird der Sinn der Ausgabe erfüllt sein, Österreich wird gefeit sein vor der schleichenden Gesamtänderung seiner Verfassung, genauer vor dem Abgleiten ins Verfassungslose.

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