Karl Nehammer-Victor Orban - © Foto: APA/BKA/DRAGAN TATIC

ÖVP: Die Mitte bleibt frei

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Die SPÖ hat ihr linkes Profil geschärft, die FPÖ radikalisiert sich rechts. Als Folge will sich die Volkspartei unter Karl Nehammer „in der Mitte“ positionieren. Doch dazu müsste man die eigene ordnungs- und grundsatzpolitische Leere überwinden. Ein Gastkommentar.

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Die SPÖ hat ihr linkes Profil geschärft, die FPÖ radikalisiert sich rechts. Als Folge will sich die Volkspartei unter Karl Nehammer „in der Mitte“ positionieren. Doch dazu müsste man die eigene ordnungs- und grundsatzpolitische Leere überwinden. Ein Gastkommentar.

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Die ÖVP-Spitze träumt davon, im Herbst 2024 in der politischen Mitte die Nationalratswahl positiv für sich zu entscheiden. Dort hätte sie auch eine strategische Alleinvertretung, nachdem die FPÖ rechts außen und die SPÖ unter Andreas Babler nunmehr deutlich links blinkt. Nur das strategische ­Potenzial allein wird die Wähler(innen) in der Mitte nicht überzeugen: Es fehlt der ÖVP an inhaltlicher Positionierung.

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Politische Sekundärtugenden wie Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Versöhnlichkeit und damit Glaubwürdigkeit allein reichen bei weitem nicht, um die freie Mitte zu überzeugen. Diese Sekundärtugenden, die der ÖVP früher durchaus zuzuschreiben gewesen wären, brauchen zunächst politische Inhalte und Überzeugungen. Und genau diese sind der Kurz- und Nehammer-ÖVP abhandengekommen: Die politische Praxis der letzten Jahre bezeugt eine unübersehbare ordnungs- und grundsatzpolitische Leere.

Keine vernünftigen Eingriffe in die Preise

Beispiele gefällig? Die ordnungs- und grundsatzpolitischen Positionen einer ökosozialen Marktwirtschaft wurden letztes Jahr am Beginn der Energiekrise schlichtweg mit reiner Marktgläubigkeit verwechselt. Der intrinsische ÖVP-Grundsatz wurde vergessen, wonach den rein profitorientierten kapitalistischen Selbstzwecken des Marktes mit kräftigen Regulatorien entgegenzuwirken ist, damit die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Mehrheit in der Bevölkerung geschützt werden können: Es hat keine politisch vernünftigen Eingriffe in die Preisbildung am Energiemarkt gegeben. Was dann in der Folge zu einer überhitzten Inflation führte, mittlerweile in der dritten und vierten Welle. Das wirkt sich auf die große Mehrheit der Menschen hochgradig negativ aus.

Die ordnungspolitische Leere bei der Inflationsbekämpfung hat einen weiteren intrinsischen ÖVP-Grundsatz verletzt, nämlich den Schutz des Eigentums: Die Nationalbank hat errechnet, dass das reale Geldvermögen der Österreicher(innen) in den beiden Jahren 2022 und 2023 allein inflationsbedingt um rund 17 Prozent geschrumpft ist. Das heißt: Sparvermögen, Rücklagen für die Altersvorsorge und andere Formen des Geldvermögens, wie es sich die von der ÖVP rhetorisch gelobten „fleißigen“ Menschen erarbeiten, sind wegen falscher Inflationspolitik um 17 Prozent weniger wert.

Anderes Beispiel, das Menschen besonders hart trifft: In den überhitzten Mietmarkt wurde ordnungspolitisch nicht oder nur halbherzig oder viel zu spät eingegriffen. Warum? Weil die ÖVP das Markt­interesse der (wenigen) Vermieter über das marktwirtschaftliche und damit soziale Interesse der großen Mehrheit der Mieter gestellt hat. Anstelle eines simplen gesetzlichen Eingriffs in die indexgebundene Wertsicherung der Mieten gibt es für viele Haushalte katastrophale finanzielle Auswirkungen auf die eigene wirtschaftliche Situation.

Die ÖVP, die unter Josef Riegler die zukunftsweisenden Grundlagen einer ökosozialen Marktwirtschaft festgelegt hat, ist heute in dieser Frage eine inhaltsbefreite Bewegung.

Diesen drei Beispielen des sozial- und wirtschaftspolitischen Scheiterns würde der Bundesparteiobmann entgegenhalten, dass man mit Transferzahlungen aus dem Steuerhaushalt „die Kaufkraft der Bürger gestärkt habe“. Abgesehen von den schnell verpufften Einmaleffekten solcher Transferzahlungen ist das eine merkwürdige Aussage einer ÖVP, die ansonsten das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“ hochhält: Lediglich rund 20 Prozent leistungsstarker Einkommensbezieher sind die Nettozahler dieser gewaltigen Umverteilungsmaschine.

Anderes Beispiel des Verlusts an grundsatzpolitischen Haltungen der ÖVP: Die Partei war unter Alois Mock, Erhard Busek und Wolfgang Schüssel die starke europapolitische Kraft in Österreich. Kein EU-Beitritt ohne das Wirken der ÖVP. Heute? Die ÖVP unter Sebastian Kurz und Karl Nehammer ist zur euroskeptischen Partei geworden, unfähig, zum Beispiel Lösungsvorschläge für das von ihr kritisierte Schengenregime zu entwickeln. Man ist schlichtweg „dagegen“, ohne zu wissen, was anders zu machen sei. Das letzte europapolitisch profilierte Gesicht, Othmar Karas, hat man aus der Partei vertrieben. Warum? Weil Diskurs, ein Ringen um Positionen unerwünscht ist. Für eine demokratische Partei tödlich.

Abstrakter gehalten: Die ÖVP, die unter Josef Riegler programmatisch die zukunftsweisenden Grundlagen einer öko­sozialen Marktwirtschaft festgelegt hat, ist heute in Fragen der ökologischen Umsteuerung in der Wirtschaftspolitik eine inhaltsbefreite politische Bewegung. Gerade in einer Koalition, die in diesen Fragen nicht ideologischen Aktivismus, sondern ökosozialen Hausverstand bräuchte. Junge Wähler, angesichts der Klimakrise besorgte Eltern und Großeltern erreicht sie damit nicht.

Inhaltsleere gilt in der ÖVP auch in fast allen Fragen der Sozialpolitik, egal ob Pensionen, Gesundheit, Arbeitsmigration, Sicherung des Gemeinwohls. Ist etwas Nennenswertes, außer vielleicht am Rande der Agrarpolitik, in den letzten fünf Jahren in Erinnerung geblieben?

Die Mitte steht der ÖVP aber strategisch immer noch offen. Karl Nehammer muss nur begreifen, dass Zuwanderung allein nicht das Thema sein kann. Ein frischer, moderner, der komplexen Zeit angemessener inhaltlicher Blick auf die Grundprinzipien der ökosozialen Marktwirtschaft, somit eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik, ­wäre der Schlüssel zum Erfolg. Eine Kombination aus solchen frischen Inhalten und den schon erwähnten Sekundärtugenden wäre ein Erfolgskonzept; und ein paar Leute, denen gesellschaftliche Anliegen und nicht die Propaganda à la Sebastian Kurz ein Anliegen sind.

Die Wähler(innen) in der Mitte würden eine ÖVP dringend brauchen – angesichts dessen, dass SPÖ und FPÖ aus der Mitte ­abgewandert sind.

Der Autor war von 1993 bis 2003 unter Erhard Busek und Wolfgang Schüssel Leiter der politischen Abteilung der ÖVP; später Sektionschef im Gesundheitsministerium.

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