Online-Porno - Der suchtartige Konsum von Online-Pornografie ist ein relativ junges Phänomen, das an der Schnittstelle von Sexsucht und Internetsucht zu verorten ist. - © iStock / gpointstudio (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Psychoanalytikerin Alessandra Lemma über Cybersex: "Wir beschuldigen lieber Maschinen"

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Im Internet spiegeln sich die Fantasien und Abgründe des menschlichen Geistes. Die Psychoanalytikerin Alessandra Lemma über digitalen Kapitalismus, Onlinepornografie und die Liebesbeziehung zu Robotern.

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Im Internet spiegeln sich die Fantasien und Abgründe des menschlichen Geistes. Die Psychoanalytikerin Alessandra Lemma über digitalen Kapitalismus, Onlinepornografie und die Liebesbeziehung zu Robotern.

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Findet sich im Internet ein kollektives Unbewusstes? Oder eine neuartige Manifestation der abgründigen Seelenlandschaft, wie sie Sigmund Freud beschrieben hat? In ihren Büchern hat Alessandra Lemma das digitale Zeitalter gleichsam auf die Couch gelegt. DIE FURCHE hat mit der Psychoanalytikerin und Professorin für psychologische Therapien in London ein schriftliches Interview geführt.

DIE FURCHE: Sie diagnostizieren, dass der Umbruch von einer Industrie- zu einer Informationsgesellschaft auch unsere psychischen Strukturen verändert hat. Was bedeutet das?
Alessandra Lemma
: Reale und virtuelle Welten verschmelzen zu etwas Neuem. Für die jungen Generationen sind die digitalen Netzwerke vor allem eine Erweiterung; der Rückzug in den virtuellen Raum kann aber auch eine Schutzfunktion haben, als Bollwerk gegen emotionalen Schmerz. Man tauscht die Wirklichkeit oft unbewusst gegen einen virtuellen Raum, um reale Begrenzungen hinter sich zu lassen. Das ist ein Weg, um mit Frustration zurechtzukommen und unseren Narzissmus zu bewahren. Sigmund Freud meinte ja, dass wir mehr noch als vom bloßen Luststreben durch das Vermeiden von unangenehmen Gefühlen angetrieben sind.

DIE FURCHE: Onlinebestellungen sind nicht mehr auf Öffnungszeiten angewiesen. Der digitale Kapitalismus ist darauf ausgerichtet, Konsumwünsche jederzeit und so rasch wie möglich zu erfüllen. Ist das die Verwirklichung des Freudʼschen Lustprinzips in der Ökonomie?
Lemma:
Absolut! Die Welt vor der Erfindung des Internets war noch durch drei Dimensionen charakterisiert: Begehren, Warten und schließlich die Erfüllung des Begehrens (3D: „Desire, Delay, Delivery“). Diese psychische Prozedur beruhte auf der Fähigkeit, das Warten und die Frustration auszuhalten. Die „Digital Natives“ hingegen wachsen in einer zweidimensionalen Welt auf: Die Erfahrung des Wartens wird verkürzt oder eliminiert. Damit verliert das Begehren seine 3D-Form, das heißt, seine Dimensionen sind psychisch nicht mehr ausreichend repräsentiert.

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DIE FURCHE: Im „Überwachungskapitalismus“ werden unsere Vorlieben durch Onlinetracking und Datensammlungen ausgewertet. Fast scheint es, als ob es nicht mehr Priester oder Therapeuten sind, die am meisten über unsere tiefsten Wünsche wissen, sondern die Hightechkonzerne!
Lemma:
Wir sind heute in gewisser Weise „Daten“, zumindest liefern wir diese fast rund um die Uhr, egal ob bewusst oder unbewusst. Deshalb ist die Regelung der digitalen Welt eine dringende ethische Forderung. Bildung ist da sehr wichtig: An Schulen sollte es eigene Kurse geben, um die Autonomie der Kinder zu stärken. Aber Gott sei Dank ist das Unbewusste nicht auf einen Algorithmus reduzierbar! Die Techfirmen haben also nur Zugriff auf oberflächliche Muster. Die Art und Bedeutung der unbewussten Inhalte sind allein durch Datensammlungen schwer zu entschlüsseln.

DIE FURCHE: Jeden Tag prasselt eine Flut an Informationen auf uns ein. Das passiert oft schnell und beiläufig, zum Beispiel beim Blick auf das Smartphone, während man in der U-Bahn sitzt. Manche Inhalte überschreiten dann kaum die Schwelle der bewussten Wahrnehmung. Wie wirkt sich das auf unsere innere Landschaft aus – entstehen da jetzt mentale Müllhaufen?
Lemma:
Unbewusste Prozesse miteinzubeziehen, war schon immer der Kern von Werbung, um Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu bewegen. Heute wirkt diese Intrusion noch viel stärker. Aber nicht jede Manipulation ist schlecht. Manche Formen von „Nudging“ sind legitim, wenn sie dem individuellen oder gesellschaftlichen Wohl dienen und dabei klaren ethischen Richtlinien folgen. Es ist doch nicht inakzeptabel, wenn eine grafische Gesundheitswarnung viele Leben rettet! Werbeagenturen oder Neuromarketing-Firmen führen Manipulationen jedoch oft profitorientiert durch und untergraben dabei die geistige Autonomie, teils sogar mit negativen Folgen für das psychische Befinden. Das ist eine Verletzung des Grundrechts auf psychische Integrität.

Wir müssen psychosoziale Maßnahmen entwickeln, mit denen junge Menschen gegen die potenziellen Risiken der Onlinepornografie ‚geimpft‘ werden können.

DIE FURCHE: Was sagen Sie zur Onlinepornografie?
Lemma:
Sie ermöglicht den Rückzug in eine Fantasiewelt. Generell besteht die Sorge, dass junge Menschen mit wenig sexueller Erfahrung die gezeigten Inhalte für bare Münze nehmen. Es mag vorübergehend lustvoll sein, sich so von der Wirklichkeit abzukoppeln; langfristig sind negative Folgen zu erwarten. Wir müssen psychosoziale Maßnahmen entwickeln, mit denen junge Menschen gegen die potenziellen Risiken der Onlinepornografie „geimpft“ werden können. So wie eine Grippeimpfung die Krankheit nicht ganz verhindern kann, wird keine dieser Interventionen zu hundert Prozent wirken. Aber es sollte doch zur Risikoreduktion beitragen.

DIE FURCHE: Was sind die konkreten Risiken der Onlinepornografie?
Lemma:
Der leichte Zugang untergräbt einen wichtigen psychischen Prozess, nämlich die Mentalisierung, die ein Schlüssel für die sexuelle Entwicklung und eine gesunde Partnerschaft ist. Das ist die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren und das eines anderen interpretieren zu können: zum Beispiel anzuerkennen, dass der Partner gerade keine Lust hat, obwohl man selbst ein starkes Begehren verspürt. Jüngere Studien zeigen auch, dass Onlinepornografie zum Gesundheitsrisiko werden kann und eine liebevolle Sexualität beschädigt. So korreliert Pornografiekonsum im „echten Leben“ mit Erektionsstörungen, geringer Libido und Orgasmusschwierigkeiten. Bei Männern unter 40 Jahren gibt es einen deutlichen Anstieg sexueller Störungen, im Bereich von 30 und 42 Prozent.

DIE FURCHE: Kann man also sagen, dass die Onlinewelt die Triebnatur befeuert, während das Über-Ich, also die hemmende Selbststeuerung, geschwächt wird?
Lemma:
Der virtuelle Raum funktioniert wie ein Kokon. Man hüllt sich darin ein, ohne die Anhaltspunkte, die in der realen Welt für Besinnung und Beschränkung sorgen. Die Anonymität im Netz kann auch dazu anregen, Autoritäten zu missachten. Onlinepornografie ist so designt, dass sie eine Auflösung des Über-Ich begünstigt. Medienverhalten ist ja auch eine Folge des Technologiedesigns. Auftauchende „Popups“ können die User verführen, ihre Suche immer mehr auszudehnen. Das Internet ist ein hybrider Raum, wo die Grenzen zwischen „erlaubt“ und „verboten“ gefährlich verschwimmen. Das normalisiert womöglich sexuelle Fantasien, die sonst als inakzeptabel gelten. All das könnte dazu beitragen, dass Onlinepornografie zu sexuell aggressivem Verhalten führt. Die Studienlage dazu ist aber widersprüchlich. Sexuelle Aggression wird durch verschiedenste Faktoren ausgelöst, sodass man sich vor Verallgemeinerungen hüten sollte.

Alessandra Lemma - © Foto: privat

Alessandra Lemma

Einige ihrer Bücher sind im Verlag Brandes & Apsel auf Deutsch erschienen: „Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse“ (mit Paul Lynch; 2019), „Der Körper spricht immer“ (2018), „Psychoanalyse im Cyberspace“ (mit Luigi Capparotta; 2016) sowie „Suizid und Suizidalität (mit Stephen Briggs und William Crouch; 2012).

Einige ihrer Bücher sind im Verlag Brandes & Apsel auf Deutsch erschienen: „Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse“ (mit Paul Lynch; 2019), „Der Körper spricht immer“ (2018), „Psychoanalyse im Cyberspace“ (mit Luigi Capparotta; 2016) sowie „Suizid und Suizidalität (mit Stephen Briggs und William Crouch; 2012).

DIE FURCHE: Steht die Menschheit heute am Anfang einer Liebesaffäre mit Robotern?
Lemma:
Da stellt sich die Frage, welche psychischen Vorteile daraus erwachsen würden. Konkrete Beziehungen sind in gewisser Weise unvorhersehbar: Die „Andersheit“ eines Menschen verlangt eine Menge an psychischer Arbeit. Roboter sind die maßgeschneiderte Version eines „anderen“, der zur Gänze vom Selbst kontrolliert wird. Sie erlauben somit eine Abkürzung: Jemand, der uns begehren oder ablehnen kann, wird durch ein Objekt ersetzt, das vollständig manipulierbar ist. Das entspricht den Trends in der zeitgenössischen Kultur. Der Film „Her“ von Spike Jonze bringt das gut auf den Punkt. Darin verliebt sich der Hauptdarsteller in ein Betriebssystem, mit dem er nur über eine körperlose Stimme kommuniziert. Technologie befreit den Körper von seinen abstoßenden Aspekten und schafft somit Abstand zu unserer organischen Natur – auch zur Abhängigkeit von anderen. Der Film zeigt aber auch, wie wir nach echter Verbindung streben und welche emotionalen Herausforderungen mit Intimität verbunden sind.

DIE FURCHE: Sehen Sie im Cybersex eine Art von Kulturverfall?
Lemma:
Es passiert leicht, dass man von diesen Entwicklungen abgestoßen ist. Doch diese sind oft nur Variationen früherer Gepflogenheiten, an die wir schon länger gewöhnt sind: Telefonsex wurde durch Chatforen abgelöst; Onlinedating erscheint bereits konventionell im Vergleich zu den neuesten Dating-Apps. Neue Technologien wandern rasch aus einer Nische in den Mainstream. Die heftigen Reaktionen auf Cybersex verraten, wie schwer es ist, über Intimität nachzudenken. Da beschuldigen wir lieber Maschinen, anstatt unseren Geist in die Pflicht zu nehmen!

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