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ADDIO, Vater Staat

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In den derzeitigen Programmdiskussionen von OVP, SPÖ und vom Liberalen Forum spielt der Begriff „Solidarität“ eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im folgenden Gedanken zu diesem Begriff.

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In den derzeitigen Programmdiskussionen von OVP, SPÖ und vom Liberalen Forum spielt der Begriff „Solidarität“ eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im folgenden Gedanken zu diesem Begriff.

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Gerade in einer Periode oft ernüchternder zwischenmenschlicher Beziehungen ist seine Ausstrahlung besonders groß. Soziales Verhalten, also Verhalten im Sinne unserer Mitmenschen (und dabei insbesondere im Sinne jener, die wir als „schwach“ bezeichnen) scheint heute selten geworden zu sein. Mitmenschlichkeit ist offensichtlich kein Begriff für den Ist-Zustand unserer abgeklärten, nicht selten desillusionierten und selbstbezogenen Gesellschaft.

Ihr, der Mitmenschlichkeit - jener anderen Bezeichnung für soziales Verhalten und gesellschaftliche Solidarität - mag nur mehr ein Platz im Soll-System prinzipiell anzustrebender Werte verbleiben.

Solche Gedanken vor Augen, versuchen manche Parteistrategen dem - wider ursprünglichem Willen — absterbenden solidarischen Denken und Handeln neues Leben einzuhauchen. Dabei überzeugend zu wirken ist jedoch schwer - zu tief sind in der anzusprechenden Bevölkerung Kritik und Skepsis gegen die Parteien verankert; zu tief sitzt das Mißtrauen, politischer Atem sei faul.

Das, was wir heute als „soziale“ Wirklichkeit bezeichnen, ist schlechthin eine „Gesellschaft ohne Gemeinschaft“. Diese wird im großen und ganzen charakterisiert durch ein Nebeneinander von Individuen, die nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit zueinander finden; nur des materiellen Zwecks, ja des eigenen Profits wegen, nicht aber aus Motiven (die keineswegs zufällig im heutigen Sprachgebrauch aussterben mögen:) der mitmenschlichen Zuwendung und Fürsorge, ja der Selbstlosigkeit.

Vor uns haben wir eine Gesellschaft kalkulierter, geregelter und aufeinander abgestimmter Egoismen. Für den Mitmenschen der abgelaufenen Aufklärung ist darin kein Platz mehr - er mußte dem Nebenmenschen der angebrochenen Abklärung weichen, des Zeitalters eben, in dem wir heute visionslos und ernüchtert leben.

Sollten sich die Sozialisten im Zuge ihrer eigenen Programm-Retrospektive rühmen, soziale, das heißt mitmenschliche Demokratie verwirklicht zu haben, so ist ihnen im Sinne der bisher dargelegten Argumente gehörig zu widersprechen: Sie haben mit ihrer „Sozial“-Politik das genaue Gegenteil dessen gezeugt, was sie schaffen wollten!

Sozialismus-Theoretiker könnten ein wenden, es gäbe ein ausreichendes „soziales Netz“ (das von Kritikern gern als „soziale Hängematte“ verhöhnt wird); das stimmt unter gewissen Bedingungen, aber es trifft nicht den Kern des Vorwurfs. Denn das, was Sozialisten als „soziales Verhalten“ verstehen wollen, ist in Wirklichkeit „verstaatlichte Solidarität“, nicht aber verantwortungsbewußtes Handeln der einen für die anderen. Träger jenes sozialistischen Solidaritäts-Mißverständnis sind diverse staatliche Institutionen. Liegt ein soziales Problem vor, so hat sich der darunter Leidende an „Vater Staat“ zu wenden. Dessen abstrakte, verbürokratisierte, ja entmenschlichte Einrichtungen entscheiden dann, ob und wie dem Bedürftigen zu helfen ist.

Was bei diesem Kreislauf zwischen konkreter, hilfesuchender Person und abstraktem, hilfegewährendem Staat jedoch auf der Strecke bleibt, ist die Mitmenschlichkeit. Wozu auf die vage Hilfe des Mitmenschen setzen, wenn es doch die institutionalisierten Angebote von Vater Staat gibt?!

Wozu — andererseits - jemanden unterstützen, wenn mir Vater Staat meine Verantwortung ohnehin abnimmt; wozu persönlich helfen,

wenn ohnehin staatlich geholfen wird?! Wozu private Solidarität, gibt es doch staatliche?

Drastisch ausgedrückt: Die Verstaatlichung der Solidarität ist (entgegen dem eigentlichen sozialistischen Wunsch) die Rechtfertigung eines privaten Egoismus.

Daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, die Unterstützung Bedürftiger durch den Staat sei abzuschaffen, wäre allerdings falsch. Man sollte nicht vergessen, daß es zu eben dieser staatlichen Fürsorge überhaupt kam, weil das verantwortungsgerechte Verhalten unter Individuen zur Abdeckung sozialer Bedürfnisse

nicht ausgereicht hatte. Zur Lösung der zuvor angeschnittenen Probleme bedarf es also nicht eines Abbaus, sondern vielmehr eines Umbaus im Sozialen.

Der Staat (das heißt die formelle Gesellschaft?) hat seiner Verantwortung weiterhin gerecht zu werden: aber nicht indem er, wie beschrieben, den Mitmenschen die Initiative zur Solidarität entzieht; sondern indem er „Anreize zur Mithilfe“, Anreize zur Hilfe von Mensch zu Mensch setzt; Anreize zu unmittelbarer, persönlich zu leistender und persönlich erfahrbarer Mitmenschlichkeit.

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