Die Gesellschaft mündiger Bürger

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Durch die Verschiebung der Gewichte zwischen Politik und Wirtschaft kommt der Debatte um die Zivilgesellschaft steigende Bedeutung zu.

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Durch die Verschiebung der Gewichte zwischen Politik und Wirtschaft kommt der Debatte um die Zivilgesellschaft steigende Bedeutung zu.

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Sein Schlüsselbegriff ist die Bürgergesellschaft, was er offensichtlich auf den englischen Begriff der âcivil society' zurückführt", analysierte die "Neue Zürcher Zeitung". Der leicht staunende Unterton im Nebensatz erklärt sich aus dem Gegenstand des Artikels: nicht etwa von irgendeinem europäischen Paradeliberalen, Intellektuellen oder einstigen Bürgerrechtler aus dem Osten war da die Rede, sondern vom seit November 1997 amtierenden iranischen Präsidenten Mohammed Khatami.

Das hat in der Tat etwas Sensationelles an sich: das Oberhaupt eines Staates, der so ziemlich das genaue Gegenteil dessen darstellte, was man im Westen unter Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus zu verstehen pflegt, hat etwas mit Bürgergesellschaft am Hut. Nun ist der neue Präsident nicht ident mit seinem Land und dessen Gesellschaft; und auch Khatami selbst wird im bereits erwähnten NZZ-Artikel nichtsdestotrotz als "Vorkämpfer der islamischen Republik" bezeichnet. Dennoch könnte hier eine Entwicklung mit noch unabsehbaren Folgen im Gang sein.

Die politische Lage im Iran ist hier nicht unser Thema, aber das Beispiel zeigt doch zweierlei. Zum einen, daß man die fraglos großen Differenzen zwischen den einzelnen Kulturen nicht über Gebühr hochstilisieren sollte. Der Anspruch auf Menschen- und Bürgerrechte muß universal bleiben; wenn selbst in Berichten aus Teheran der Begriff "Bürgergesellschaft" vorkommt, zeigt dies, daß jedenfalls nichts endgültig einzementiert ist. Umgekehrt werden gerade unter dem Titel der religiös-kulturellen Eigenständigkeit Menschenrechtsverletzungen von einem Teil der Länder quasi gerechtfertigt und von einem anderen, als "Westen" bezeichneten Teil augenzwinkernd geduldet.

Zum anderen mahnt das Beispiel freilich auch zur Vorsicht; denn man kann daran sehen, was alles unter ein und dem selben Begriff - wie eben "Bürgergesellschaft" - Platz hat. Das haben indes gerade allgemeine und abstrakte Begriffe an sich. Während aber etwa die "Menschenrechte" - auch dies ein prinzipiell dehnbarer Begriff - immerhin in einer UN-Charta (10. 12. 1948) ausformuliert wurden, umreißt "Bürgergesellschaft" oder "Zivilgesellschaft" oder "Civil Society" zunächst nur vage die Vorstellung einer Gesellschaft aufgeklärter mündiger Bürgerinnen und Bürger, die quer zu jeder Form von angemaßter Autorität steht.

Den Versuch einer genaueren Begriffsbestimmung unternimmt in diesem Dossier Emil Brix, Direktor des Österreichischen Kulturinstituts in London (Seite 14). Brix ist dafür in besonderer Weise prädestiniert, leitet er doch eine ARGE "Wege zur Civil Society in Österreich", die sich darum bemüht, im Lande der "josephinischen Tradition hoher staatlicher Regulierung" (Brix) die zarten Ansätze zu einer Zivilgesellschaft weiterzuentwickeln, und für ein Einmischen der Bürger in die öffentlichen Angelegenheiten (res publicae) zu plädieren. Brix entstammt auch dem geistigen Umfeld jenes Mannes, der in Österreich an erster Stelle mit dem Thema assoziiert werden muß: Erhard Busek. Das kommt nicht von ungefähr, denn Busek war es, der wie kaum ein anderer österreichischer Politiker über die Jahre hinweg intensive Kontakte zu den Intellektuellen- und Dissidentenkreisen der früheren Warschauer-Pakt-Länder pflegte. Einer aus diesen Kreisen kann vielleicht als so etwas wie die personifizierte Civil Society bezeichnet werden: Vaclav Havel, dessen Wort vom "Versuch, in der Wahrheit zu leben" eine Art ethischer Latte für die Menschen in der Zivilgesellschaft legt.

Was Havel für Tschechien, ist Tadeusz Mazowiecki für Polen. Der erste nichtkommunistische Ministerpräsident des Landes nach der Wende von 1989 hielt im vergangenen November die nunmehr 11. Jan-Patocka-Gedächtnis-Vorlesung des "Instituts für die Wissenschaften vom Menschen" unter dem Titel "Politik und Moral im neuen Europa". Der Text, den wir auf Seite 16 in stark gekürzter Form veröffentlichen, läßt sich auch als Geschichte des Kampfes um eine Bürgergesellschaft in Polen und Vorgriff auf eine gesamteuropäische Zivilgesellschaft lesen.

Zwischen Brix und Mazowiecki kommt die deutsche Politikwissenschafterin und Publizistin Antonia Grunenberg zu Wort. Sie war vor kurzem in der SPÖ-Zukunftswerkstätte in der Wiener Schönlaterngasse zu Gast, um "Über die Aufgaben der Bürger im Gemeinwesen" zu referieren. Unter dem poetischen Titel "Der Schlaf der Freiheit" hat Grunenberg ihre Gedanken in Buchform vorgelegt. "Es scheint, als würden die westlichen Gesellschaften erdrückt von der Bürde, das soziale Leben zu organisieren und Not von den Bürgern und Bürgerinnen abzuwenden", lautet die skeptische Diagnose, aus der - ähnlich wie bei Brix - die Forderung folgt, "öffentlich Verantwortung für das Gemeinwesen anzunehmen".

Der Vorstellung einer durch und durch mündigen Gesellschaft haftet naturgemäß etwas Utopisches an. Es ist, möchte man vielleicht abschätzig sagen, ein klassisches Minderheitenprogramm. Doch eines, so müßte man dann wohl hinzufügen, dem angesichts der Verschiebung der Gewichte zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Nationalstaaten, supranationalen Gebilden und regionalen Strukturen eine stark steigende Bedeutung zukommen könnte.

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