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Julius Wagner-Jauregg

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Um die Mitte des 19. Jahrhunderts amtierte zu Wels in Oberösterreich der absolvierte Jurist Johann Adolf Wagner als Kameral-Rath und Kameral-Bezirksvorsteher. Er wurde später als Finanzrat in Wien mit dem Prädikat „von Jauregg" in den Adelsstand erhoben. Von seinen zwei Söhnen hat sich der jüngere, Fritz, als Generalpostdirektor und Sektionschef des modernen Verkehrswesens uąd der Luftschiffahrt in Oesterreich vor 1918 anerkannte Verdienste erworben. Der um ein Jahr ältere, am 7. März 18 57 geborene Sohn Julius hatte durchweg vorzügliche Gymnasialzeugnisse, widmete sich mit großem Eifer an der Universität in Wien dem Studium der Medizin. Nach der Promotion im Jahre 18 80 war er etliche Jahre auf der Suche nach einem Lebensweg, einige Male sogar nahe daran, auszuwandern. Er hatte nie im mindesten daran gedacht. Psychiater zu werden. Eines Tages bewarb er sich, auf Geheiß einiger Kollegen, um eine frei werdende Assistentenstelle an der Psychiatrischen Klinik der Niederösterreichischen Landesirrenanstalt, Er scJjieibt darüber in seinen Lebenserinnerungen: „Es hat dieser etwas übereilte Entschluß weder mir noch der Psychiatrie geschadet.“ An die Stelle dieses sehr bescheidenen, in einen humorvollen Satz gekleideten Selbstlobes ist schon längst die allgemeine Anerkennung getreten, daß aus dem Zufallpsychiater ein großer Arzt und Gelehrter geworden ist, der sich große Verdienste um sein Vaterland und um die Menschheit erworben hat. Das sei anläßlich seines 100. Geburtstages durch die Anführung seiner drei Hauptwerke wieder in Erinnerung gebracht.

Als außerordentlicher Professor in Graz, 1889 bis 1893, wanderte Wagner-Jauregg durch die steirischen Gebirgsgegenden, um den endemischen Kretinismus zu studieren. Er legte 1912 die Ergebnisse in einem großen Werk nieder, das noch heute bei der Bearbeitung dieses Forschungsgebietes als Grundlage dient. Wagner-Jauregg stellte Jodmangel als Ursache dieser Verblödungszustände fest und empfahl die Kropfprophylaxe durch Verabreichung von jodiertem Kochsalz. Literaturberichten zufolge sind unter kropfigen Schulkindern doppelt so viele mit deutlicher Intelligenzverminderung als unter kropffreien, nämlich 24:13 Prozent. Durch rechtzeitige Verabreichung kleinster Jodmengen können ganze Gegenden kropffrei gemacht und damit die Anzahl von Menschen mit Intelligenzschwäche möglichst niedrig gehalten werden. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Ergänzung der durch die staatliche Schulpflicht bewirkten Geistesbildung.

Das zweite große Werk Wagner-Jaureggs fällt in die Zeit seiner ordentlichen Professur in Wien von 1893 bis zur Pensionierung im Jahre 1928. Wagner-Jauregg hatte sich dreißig Jahre lang mit einer Idee getragen, die wohl deswegen nicht einschlief, weil in jenen Jahrzehnten Kliniken und Heilanstalten gefüllt waren mit Paralytikern, die zwei bis fünf Jahre nach Beginn der Erkrankung starben, weil ihnen nicht geholfen werden konnte. Da wagte Wagner- Jauregg, nachdem er schon in Graz Versuche mit künstlichem Fieber gemacht hatte, den Heilversuch mit einer künstlichen Infektionskrankheit. Er hatte die Malariatherapie der Progressiven Paralyse erdacht. Es war ein großes Wagnis und ein gewaltiger Erfolg. Es stand nun fest, daß eine in der ganzen Welt als unheilbar geltende Krankheit doch nicht unheilbar istl Heute gibt es in den Anstalten nur noch sehr wenige Paralytiker. Diese Behandlung hatte weiter zur Folge, daß überhaupt neben der

Pflege der Geisteskranken mehr und mehr auch die Behandlung ins Auge gefaßt wurde, und daß jetzt die Zeiten langsam zu Ende gehen, in denen man geisteskranke Menschen als „lebendig begraben“ abgeschrieben hat.

Das dritte große Werk Wagner-Jaureggs ist seine Gesamtarbeit am Aufbau des Sonderfaches der Gerichtspsychiatrie und an der Irrengesetzgebung in Oesterreich. Die in Ermangelung eines Irrenfürsorgegesetzes in die österreichische Entmündigungsordnung 1916 eingefügten Paragraphen über „Gerichtliches Verfahren bei Aufnahme in geschlossene Anstalten“ sind vorwiegend Wagner-Jauregg zu verdanken. Sie bieten einen Schutz des Staatsbürgers vor ungerechtfertigter Internierung, wie er besser in keinem Gesetzeswerk der Welt gewährleistet ist.

So zeigt es sich, daß die Werke Wagner- Jaureggs über den Rahmen der medizinischen Wissenschaften und der ärztlichen Berufstätigkeit hinaus dem menschlichen GesellschaftsLeben zugute -kommen.

Die Anerkennungen sind nicht ausgeblieben. Wagner-Jauregg wurden zu Lebzeiten hohe wissenschaftliche Auszeichnungen zuteil, darunter 1927 der Nobelpreis als einzigem Psychiater bis dahin und bis heute. Wagner-Jauregg war korrespondierendes oder Ehrenmitglied zahlreicher in- und ausländischer wissenschaftlicher Gesellschaften, war Ehrendoktor der Juridischen Fakultät in Wien. Nach seinem 1940 erfolgten Tode hat ihm die Nachwelt die gebührenden Ehrungen zuteil werden lassen: Ein Reliefbild ziert den Hörsaal der Psychiatrischen Klinik in Wien, im Arkadenhof der Universität steht in weißem Marmor seine Büste, in der Lustkandlgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk erinnert der große Wohnhausblock „Wagner- Jauregg-Hof" an ihn, die 500-Schilling-Note der Oesterreichischen Nationalbank trägt als Porträt das besonders markante und einprägsame Gesicht des Gelehrten. Jetzt erschien eine Briefmarke mit seinem Bild, und an seinem Wohn- hause, Ecke Landesgerichtsstraße-Liebiggasse im 1. Bezirk, wurde vom Verein für Psychiatrie in Wien eine Gedenktafel angebracht. Wie viele Aerzte sind im Laufe von vierzig Jahren in dieses Haus gegangen, um sich in einer schwierigen Frage ihrer wissenschaftlichen Arbeit oder ärztlichen Praxis beraten zu lassen: nicht wenige auch um Hilfe in ihrem Bemühen um eine

Lebensstellung! Wie viele Menschen aus Oesterreich und fernen Ländern sind in dieses Haus eingetreten, um durch den großen Arzt und Gelehrten einen letzten Behandlungsversuch in die Wege leiten zu lassen.

Ueber den Menschen Wagner-Jauregg sei nur so viel gesagt, daß er als Vorbild für die gleichmäßige Ausbildung von Körper und Geist gelten kann. Wagner-Jauregg betrieb alle Arten von Sport, einschließlich Reitsport und Athletik. Der Bildhauer Tilgner hat seinen schönen, muskulösen Arm modelliert ... Besonders pflegte Wagner-Jauregg die Bergsteigerei. Sein Berg- freund war der Kinderarzt Professor Theodor Escherich. Nach ihm ließ Wagner-Jauregg seinem Sohn den Namen Theodor geben. Wagner-Jaureggs Darstellung über seine Lehrzeit muß jeden Menschen mit Bewunderung für den großen Fleiß des Mediziners mit einem Gulden Taschengeld im Monat erfüllen. Man bekommt auch einen Begriff von dem zähen Ringen des iungen Arztes während seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten und versteht, daß bei Wagner-Jauregg das Denken schließlich eine ganz seltene Ausbildung erfahren hat. Wagner- Jauregg besaß einen durch Wissenschaft veredelten Hausverstand. So konnte er die schwierigsten Probleme auf scheinbar einfache Art lösen und das Ergebnis in klaren Worten zum Ausdruck bringen. An einem Beispiel sei gezeigt, wie Wagner-Jauregg eine Materie beherrschte und wie er zu einer wissenschaftlichen Feststellung gelangte, die so richtig ist, daß sie für immer gilt und daher auch nachträgliche Be stätigungen erfahren kann. In der Antrittsvorlesung in Wien im Jahre 1893 befaßte sich Wagner-Jauregg mit den Degenerierten und sagte: Wenn diese obenauf seien, komme es zu einer „durch Wahnwitz und Greuel sich selbst rasch verzehrenden Bewegung" und es handle sich da „nicht um eine Epoche menschlicher Entwicklung, sondern nur um eine Episode" (Wien, Klin. Wschr., 1893, Seite 850). Jeder Mensch hierzulande und anderwärts, der nichts mit dem medizinischen Schrifttum zu tun hat, wird bei diesem Hinweis staunen über die Schärfe des Geistes, die dazu gehört, um solche Sätze zu prägen.

Diese Zeilen sind geschrieben aus persönlicher Dankbarkeit und gewidmet allen jungen Menschen, denen trotz der Vermassung der menschlichen Gesellschaft immer noch die Persönlichkeit als das höchste in unserem Erdendasein erscheint.

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