David_4D - © iStock/ 3DSculptor (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Neuerschaffung der Welt in 4-D?

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Vor zwei Wochen berichtete Martin Tauss in der FURCHE von „Time Machine“-Visionen. Historische Landschaften digital rekonstruiert und erlebbar gemacht? Skeptische Anmerkungen eines Historikers.

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Vor zwei Wochen berichtete Martin Tauss in der FURCHE von „Time Machine“-Visionen. Historische Landschaften digital rekonstruiert und erlebbar gemacht? Skeptische Anmerkungen eines Historikers.

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Ein Spaziergang durch die Geschichte, eine Reise durch die Zeit: Wer hätte nicht schon davon geträumt? Dem Fluss der Zeit entsteigen, um an beliebiger Stelle stromauf- oder abwärts wieder in ihn einzutauchen – möglichst ohne sich dabei nass zu machen. Es sind ebenso alte wie mächtige Fantasien, die das Projekt „Time ­Machine Europe“ zu verwirklichen verspricht.

So nennt sich ein Zusammenschluss von Kultureinrichtungen und Programmie­rern, die sich das ambitionierte Ziel gesteckt haben, historische Landschaften digital zu rekonstruieren und erlebbar zu machen – lückenlos, epochenübergreifend, wissenschaftlich fundiert. Glaubt man ihren Ankündigungen, dann steht uns nichts Geringeres als eine kulturelle Revolution ins Haus: die Neuerschaffung der Welt in vier Dimensionen, aus dem Geist von Big Data.

Bislang findet man auf der Website der Organisation allerdings kaum konkrete Anzeichen, die auf einen baldigen Ausbruch dieser Revolution hindeuten. Viele Links zu den Partner-Institutionen führen auf Seiten, die keine relevante Information zum Thema liefern, oder enden gar im virtuellen Nichts. Ein Flaggschiff des Projekts, die „­Venice Time Machine“, steht laut offizieller Stellungnahme derzeit auf Pause, weil die beteiligten Institutionen ihre Kooperation vorübergehend eingestellt haben.

Selektive Überlieferungen

Aber nehmen wir einmal an, die „Time Machine“ wird eines Tages Wirklichkeit: Zu welcher Art „Leben“ würde die Geschichte darin wiedererweckt? Und vor allem, wessen Geschichte? Dass man „die“ Geschichte im Kollektivsingular, die alle Geschichten umfasst, jemals rekonstruieren könnte, ist undenkbar. Trotz kilometerlanger Archive und jahrzehntelanger Forschungen wird uns vieles von dem, was in der Vergangenheit existiert hat oder geschehen ist, auf ewig verborgen bleiben. Es hat keine Spuren hinterlassen. Was wir als Geschichte wahrnehmen, ist nur eine kleine Auswahl des Vergangenen – eine Auswahl, die keineswegs auf Zufall beruht. Es sind die Sieger, deren Monumente am ehesten die Zeiten überdauern, und Archive werden in der Regel von Machthabern oder zumindest Besitzenden angelegt. Die Einseitigkeit der Überlieferung wird sich in der „Time Machine“ notgedrungen widerspiegeln, auch wenn deren Macher ausdrücklich wünschen, „die Perspektiven von vernachlässigten Gruppen miteinzuschließen“. Doch wie soll eine digitale Animation all das menschliche und tierische Leid, das ja einen oft vernachlässigten Teil der Geschichte darstellt, wieder zum „Leben“ erwecken? Wird man mit der „Time Machine“ zukünftig nach Auschwitz „reisen“ und dort die Gaskammern in Betrieb „erleben“ können? Oder ins Hamburg des Sommers 1943, als die „Operation Gomorrha“ der Royal Air Force zigtausende Menschen tötete? Wohl kaum. Aber man muss nicht die heikle Frage nach der Gewalt stellen, es reicht die nach dem Gestank. Soll die „Time Machine“ etwa die Ausdünstungen römischer Kloaken und der Misthaufen auf den Gassen mittelalterlicher Städte wieder „lebendig“ werden lassen? Auch das wäre wohl zuviel verlangt. Die Konsumenten würden es auf Dauer nicht goutieren.

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