Narziß wird zutraulich
Günter Eichberger lockt uns ins Reich des Zwetschkenschnapses und des Außerlogischen.
Günter Eichberger lockt uns ins Reich des Zwetschkenschnapses und des Außerlogischen.
Mit Betrunkenen umzugehen braucht Übung. Anleitung findet man beim Grazer Autor Günter Eichberger, geboren 1959: "Vom Heimweh der Seßhaften - Multiple Prosa". Zwei Geschichten, die einer im Alkoholrausch von sich gibt, zusätzlich gestärkt durch "ein Quentchen Morphium in die Vene". Der nüchterne Leser, von einem dauerredenden Original angeschnorrt, sucht zunächst einen roten Faden, der sich durch das Gerede zieht. Von der einen Geschichte versteht er, daß sich da einer, offenbar heimkehrend von einer Japanreise, als neunköpfiger Drachengott ausgibt, die Welt erschaffen hat, auch sich selber, und zur Zeit, auf seinen Saufbauch weisend, mit einer neuen Selbstgeburt beschäftigt ist, gleichzeitig aber auch mit seiner Selbsttötung. In mehrere Persönlichkeiten gespalten, ist er Samurai, Kamikaze, Kabuki-Spieler. Alles so authentisch, als wäre er in diesen Gestalten inkarniert gewesen. Aus seinen vielen Leben hat er, recht durcheinander, die unglaublichsten Erzählungen parat, verwirrend auch in der Sprache, wenn er sein Lallen als Übersetzungsproblem vom Japanischen ins Heimische darstellt. Der grausig-rote Faden ist "Seppuku", der rituelle Selbstmord im mittelalterlichen Japan. Er droht dem Zuhörer von Anfang bis Ende, sich mit dem Schwert den Bauch aufzuschlitzen, wenn ihm nicht sofort ein Pflaumenschnaps geopfert wird. Doch in klassischer Sterbekultur zögert er das Ende kunstvoll hinaus, bis man zum Schluß nicht weiß, ob er sein Harakiri in ein späteres Leben verschoben hat oder am Tresen einfach eingeschlafen ist.
Die zweite Geschichte war schon einmal ein Hörspiel in Ö1. Sie zeigt denselben Fantasierer, diesmal daheim im Bett, von dem aus er "Unsere Unglaubliche Reise" antreten will. Wieder spaltet er sich multipel auf in eine ganze Reisegruppe, im Radio hörte man fünf Stimmen. Fahrige Vorbereitungen, alptraumhafte Hindernisse, endlose Verspätungen, sich steigernde Unmöglichkeiten. Man fährt in "Schiffflugzügen" mit Gedankenenergie, befindet sich, multipel auch in der Zeit, "auf dem heutigen Kostümball" und "im gestrigen Traum", bewegt sich in multiplen Landschaften, im Eismeer und im Sand zugleich, ist unterwegs und fragt sich ständig "Wann reisen wir ab?" Wahrscheinlich ist er nie abgereist, so wie er nie in Japan war.
Nüchtern gelesen hat alles die Kräuselkrankheit, ist in sich selbst zurückgekrümmt. Wahrnehmungen widersprechen sich: "Jetzt fängt es zu regnen an... die Sonne ist sehr aufdringlich heute". Aussagen sind unlogisch: "Gruppenreisen wären ganz angenehm, wenn es keine Mitreisenden gäbe." Absichten annullieren sich: "Dort möchte ich hin ... Ich bleibe, wo ich bin". Widerspruch wird Ironie: "Ich spreche ungern. Das muß ich sagen". Der Koan, der Unsinnsatz, ist das beliebte Muster. So präsentiert sich der psychopathologische Befund eines Blockierten, mit Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungshemmungen, als schillernde Darstellungsfantasie. Ein Autist exhibitioniert sich auf der Kleinbühne, schlüpft in die Verkleidungen einer Meute unbändiger Figuren, die allesamt nicht weiterkommen: sie hängen, in ihre Leinen verheddert, aneinander. Schwieriger Fall für einen Nüchternen, wenn so ein Gespann ihn überrennen will.
Wie man bei Kindern, um sie zu verstehen, gern in die Hocke geht, kann man sich hier vielleicht mit Pflaumenschnaps annähern, die Trockenheit der eigenen Logik aufweichen. Man entdeckt dann die vermißte Kohärenz im Außerlogischen, in der Kunst des poetischen Gedankenflusses. Oder man merkt, wo sich die sich outende Figur nicht aufspaltet: sie ist weder homo- noch hetero-, sondern einfach sexuell. Der Narziß wird langsam zutraulich, erlaubt das Annähern, die Meute will keinen überrennen. Bei ausgeschalteter Abwehr der Logik wird man dann auch den Titel-Sinn erkennen: "Heimweh. Das ist der herzhafte Schmerz des Seßhaften, der seine Heimat nicht verläßt". Ich verstehe: Der in sich selbst Gefangene schnorrt ums Zuhören vor allem, ich soll sein unstillbares Heimweh nach sich selber lindern. Von seinen Gedankenreisen findet er eher heim, wenn ich ihn begleite. Mit einem so geistreichen Betrunkenen lohnt sich jedenfalls die Anstrengung des gemeinsamen poetischen Verreisens.
Vom Heimweh der Sesshaften. Multiple Prosa von Günter Eichberger. Styria Verlag, Graz 1998. 139 Seiten, geb., öS 248,-/e 18,02
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