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Die permanente Anpassung

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LEVIN. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und eingeleitet Ton Hermann Weber. Verlag Kindler, München. 1408 Selten, Preis 4 DM.

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LEVIN. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und eingeleitet Ton Hermann Weber. Verlag Kindler, München. 1408 Selten, Preis 4 DM.

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Es entspricht der vermeintncnen Rückbesinnung des Kommunismus auf Lenin, mehr auf seine legendär gemachte Person als auf seine Schriften, daß nunmehr, 40 Jahre nach dem Tod des „Meisters“, die Werke des Begründers des neuen Rußland wieder Aktualität haben und die Herausgabe zumindest einer Auswahl rechtfertigen.

Das vorliegende Werk ist ein umfangreicher Band, der von der zweiten russischen Ausgabe der Werke Lenins beziehungsweise von der ersten deutschen (wenn auch nicht abgeschlossenen) Gesamtausgabe ausgeht, wobei auch die zwölfbändige Auswahl, die in der Zwischenkriegszeit erschienen war, verwendet wurde.

Das Werk ist in vier Teile aufgegliedert, in Theorien zur Praxo- logie des Kommunismus, in die Werke, die sich mit der Kapitalismusanalyse Lenins befassen, in die Schriften zur Strategie der Revolution und in Auszüge aus den philosophischen Schriften.

Ebenso wie die Werke von Marx sind die Schriften Lenins von der geschichtlichen Situation bestimmt, in denen sich ihr Verfasser befand, als er begann, das sozialökonomische und das politische Geschehen zu interpretieren und für eine Neuordnung bestimmende Schlüsse zu ziehen. Gegenstand der Schriften ist das Rußland des 19. und der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, jenes Rußland, in dem es noch bis 1912 so etwas wie eine verdeckte Leibeigenschaft (in Georgien) gegeben hatte, auch jenes Rußland, das den Bruder Lenins, Alexander, zum Tod verurteilte, eine Religion, in der versucht wurde, Europäer mit den Methoden Asiens und Menschen der Neuzeit mit den Methoden des (russischen) Mittelalters zu disziplinieren. Viele der Schriften Lenins sind nicht nur milieu- und zeitgebunden, sondern darüber hinaus Pamphlete, die aus Diskussionen mit Gegnern entstanden sind, daher personen gebunden, Sublimationen von oft persönlichen Konflikten.

Der Kommunismus der Gegenwart mußte den Despoten Stalin ertragen, und er muß nun wieder den Theoretiker Lenin ertragen; er hat zu versuchen, eine weitgehende situationsfixierte Theorie, deren Sachverhalte, weil Geschichte, in ihrer Bedeutung abgestorben sind, in die Gegenwart, in die jeweilige Gegenwart, zu transformieren. Weil dies nun unmöglich ist, präsentiert sich der Kommunismus der Gegenwart nicht nur als eine Bandbreite von Kommunismen, sondern auch als eine Vielfalt von kommunistischen Theorien, von unterschiedlichen Versuchen, die Lehren von Lenin an die jeweilige Gegenwart und an die regionalen Bedingungen anzupassen. Das Leninsche Prinzip , der konsequenten Parteilichkeit und der Amoralität in den Auseinandersetzungen mit dem Gegner wird in diesem Zusammenhang praktiziert, weil jede Gruppe ihre Methode der Anpassung als legitim deklariert, jene der anderen aber als Revisionismus.

Während in der Ära Stalins ein Widerspruch von kommunistischer Praxis mit marxistischer Theorie unverkennbar war, ist nun offenkundig, daß sich das komplexe Bündel kommunistischer Lehrmeinungen als ein Ganzes gegenüber dem Marxismus abzuheben beginnt und dieser seine Eigenständigkeit zurückgewinnt. Das zeigt sich sowohl in der Interpretation der Rolle der Partei als auch in der Frage des Determinismus. Der zweifellos geniale Führer des modernen Rußlands ist alles, nur kein Marxist (daß er auch kein Kommunist ist, behaupten die Chinesen), sondern ein großartiger Praktiker im Sinne des Leninschen Voluntavismus, ein Mann, der wenig von der Deter- minierung der Entwicklung hält und diese mittels des Instrumentariums der Wissenschaft zu beschleunigen sucht. Dabei ist der russische Kommunismus bemüht, an die Stelle der Idee der permanenten Revolution die Idee der permanenten Anpassung („Revisionismus“) zu setzen und zeigt eine Wendigkeit in der Bedachtnahme auf die Wirklichkeiten, die selbst einen Lenin in Erstaunen setzen würde.

Das ausgezeichnet kommentierte Buch ist weniger ein Lesebuch, sondern mehr ein Nachschlagewerk, welchem Zweck das umfangreiche Register und Personenverzeichnis sehr dienlich ist. Die Ausstattung ist hervorragend.

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